Vorwort

Seit dem Ende der 60er Jahre erlebt unsere Gesellschaft tiefgreifende Veränderungen. Ehemals klare Vorgaben in Lebensführung, Werthaltung und Sinnstiftung werden zunehmend unverbindlicher. Neue Formen der Lebens- und Sinngestaltung entwickeln sich und konkurrieren miteinander. Gleichzeitig werden dem Einzelnen hohe Leistungskraft sowie ein großes Maß an Flexibilität, Mobilität und Entscheidungsbereitschaft abverlangt. Dies führt zu starken Verunsicherungen.

Als eine Antwort und Reaktion auf diese Entwicklung ist in den letzten 20 Jahren eine mittlerweile unüberschaubare Vielzahl von neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen entstanden. Ein Teil von ihnen bietet alternative Lebenswelten, in denen Zuwendung, Gemeinschaft, Orientierung gesucht wird, auch "Zuflucht" vor den Anforderungen der Gesellschaft oder Möglichkeiten religiöser Hingabe oder Sinnstiftung. Ein anderer Teil dagegen verheißt die "ideale Anpassung" an die Herausforderungen der Moderne durch das Versprechen einer unrealistischen Steigerung und Stärkung individueller Leistungskraft. Viele Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland beobachten diese Entwicklung mit zum Teil großer Besorgnis.

Dieser Sachverhalt hat zur Einsetzung der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" geführt. Um zu klären, welche Konflikte den neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen zugerechnet werden können und um zu entscheiden, ob und wo staatliches Handeln nötig ist, hat die Enquete-Kommission innerhalb von nur zwei Jahren das Phänomen umfassend und vielschichtig analysiert. Dabei sah sie sich mit erheblichen Forschungslücken im deutschsprachigen Raum konfrontiert. Durch die Vergabe von - in der Kürze der Zeit möglichen - Forschungsprojekten und Gutachten hat die Enquete-Kommission einen nicht unerheblichen Beitrag zur Verbesserung der Forschungslage geleistet.

Mit dem Endbericht legt die Kommission die Ergebnisse ihrer Tätigkeit vor. Grundlage ihrer Arbeit waren ausschließlich die im Zusammenhang mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen auftretenden Probleme und Konflikte. Es gehörte nicht zu den Aufgaben der Kommission, einzelne Gruppen oder gar deren Glaubensüberzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Glaubens,- Gewissens,- und Bekenntnisfreiheit sind zentrale und unveräußerliche Menschenrechte, zu denen sich die Kommission uneingeschränkt und nachdrücklich bekennt. Sie hat sich in ihrer Arbeit immer vom Gebot staatlicher Neutralität und Toleranz im Sinne von Artikel 4 unseres Grundgesetzes leiten lassen.

Die Enquete-Kommission wurde mit Befürchtungen von Bürgerinnen und Bürgern über die Gefahren von "sogenannten Sekten" ebenso konfrontiert wie mit der Besorgnis vieler Gemeinschaften als "schadensbringende Sekte" etikettiert und entsprechend behandelt zu werden. Die Kommission hat sich auch mit dieser Seite des Problems intensiv auseinandergesetzt. Sie wendet sich ausdrücklich gegen eine pauschale Stigmatisierung solcher Gruppen und lehnt die Verwendung des Begriffs "Sekte" wegen seiner negativen Konnotation ab. Die Ablehnung des Begriffs "Sekte" wird auch durch das Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kommission unterstützt, daß nur ein kleiner Teil der Gruppierungen, die bislang unter dem Begriff "Sekte" zusammengefaßt wurden, problematisch sind. Daher wäre eine weitere Verwendung des Sektenbegriffs für alle neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften fahrlässig.

Ein von der Kommission in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt hat als Ergebnis erbracht, daß Menschen, die sich zu neuen religiösen oder ideologischen Gemeinschaften hingezogen fühlen, keine "passiven Opfer" sind. Vielmehr bringen sie eine Reihe von Bedürfnissen, Wünschen oder Lebensproblemen mit, die in diesen Gemeinschaften erfüllt und befriedigt werden sollen. Die Qualität der "Passung" zwischen den Erwartungen der suchenden Menschen und den Angeboten und dem Milieu der Gemeinschaften entscheidet über Einstieg in die Gemeinschaft, Verbleib oder Ausstieg.

Für eine realistische, also weder überzogene noch verharmlosende Auseinandersetzung mit diesem gesellschaftlichen Phänomen sind gesicherte empirische Ergebnisse und fundierte wissenschaftliche Erforschung der unterschiedlichen Aspekte der Thematik unerläßlich. Hier sind erhebliche Forschungsdefizite aufzuarbeiten.

Unsere Gesellschaft ist von religiösem Pluralismus geprägt. Neben den Gemeinschaften großer Weltreligionen existieren zahlreiche kleinere Gruppen unterschiedlichster Glaubensausrichtungen. Dieser Sachverhalt allein darf kein Stein des Anstoßes sein und veranlaßt den Staat nicht zum Handeln. Vielmehr hat der Staat die Entscheidung eines jeden Einzelnen und sein Bekenntnis zu dem von ihm gewählten Glauben zu respektieren. Aber: Wo Gesetze verletzt werden, wo gegen Grundrechte verstoßen wird, wo gar unter dem Deckmantel der Religiosität strafbare Handlungen begangen werden, kann der Staat nicht untätig bleiben.

Unterhalb dieser Schwelle zwingend notwendiger staatlicher Eingriffe ist der Staat nach Auffassung der Kommission zu flankierender Hilfe aufgerufen. So wenig er Vorschriften für individuelle Lebensformen geben darf, so sehr kann er seine Bürgerinnen und Bürger in einer unübersichtlich gewordenen und sich schnell verändernden Welt durch Information und Aufklärung in ihren Entscheidungsfindungen unterstützen.

Die Spannweite staatlichen Handelns im Umgang mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen bewegt sich so zwischen Aufklärung und Information einerseits sowie konkreten gesetzlichen Maßnahmen andererseits. Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission spiegeln dieses Spektrum wider. Sie weisen auf Möglichkeiten und Notwendigkeiten staatlichen Handelns hin. Die rechtlichen Empfehlungen machen Lücken in der Gesetzgebung deutlich und entwickeln Vorschläge, diese zu schließen. Zukunftsweisend ist die Empfehlung zur Einrichtung einer Stiftung, welche die unterschiedlichen Aspekte im Umgang mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen bündeln soll. Unerläßlich für die weitere Arbeit mit diesem Thema ist der Dialog über die nationalen Grenzen hinaus. Internationale Zusammenarbeit ist notwendig, da das Phänomen nicht auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt bleibt, sondern ein Kennzeichen der modernen westlichen Gesellschaften ist.

Hilfestellungen zur Orientierung und Lebensbewältigung kann der Staat nicht allein leisten. Die Eigenverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern ist zu respektieren, aber auch einzufordern. Damit dies gelingt, ist ein enges Zusammenspiel von Politik und allen gesellschaftlichen Gruppen nötig. Vermittlung von Sachwissen, Anleitung zu Toleranz und Solidarität, Stärkung der Kritik,- aber auch der Konfliktfähigkeit sind notwendig, um den Einzelnen vor der Hinwendung zu problematischen Gruppierungen zu schützen, aber ebenso, um unproblematischen neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften den Raum in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, der ihnen zusteht.

Danken möchte ich allen, die in vielfacher Weise unsere Arbeit konstruktiv begleitet und unterstützt und somit an einem erfolgreichen Abschluß mitgewirkt haben.

Bonn, den 29. Mai 1998



Ortrun Schätzle, MdB
Vorsitzende der Enquete-Kommission

"Sogenannte Sekten und Psychogruppen"