6 Stellungnahme und Handlungsempfehlungen
6.1 Stellungnahme der Enquete-Kommission zu dem gesamtgesell-
schaftlichen Phänomen der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen
In zweijähriger Arbeit (Mai 1996 bis Mai 1998) hat die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" die im deutschen Sprachraum quantitativ wie qualitativ bislang intensivste Analyse des Phänomens der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen durchgeführt. Diese bezog sich auf die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen, d. h. auf den organisierten, fest institutionalisierten Teil des Phänomens, wie auf das notwendig miteinzubeziehende, oft informelle Umfeld, den sogenannten Psychomarkt, den Markt und die Angebote der Lebensbewältigungshilfe, Mischformen zwischen (vorgeblich) religiös, weltanschaulich und ideologischer Zielsetzung und Wirtschaftsbetrieb, schließlich Strukturvertriebe. Primärer Gegenstand der Analyse waren die in diesem Zusammenhang auftretenden Gefahren und Konflikte. Diese sollten erhoben werden, um das hier liegende Gefahrenpotential realistisch einschätzen und Maßnahmen der Information und Prävention, des Schutzes und der Hilfe initiieren zu können.
Die Resultate der Enquete-Kommission knüpfen vielfach an frühere Untersuchungen und Berichte staatlicher Stellen (Berichte der Bundesregierung und der Länder) und gesellschaftlicher Gruppen (Kirchen, Gewerkschaften etc.) an und wollen diese fortführen. Als Folge des problem- und konfliktbezogenen Ansatzes der Enquete-Kommission findet keine Auflistung der Gruppen statt.
Die Ergebnisse lassen sich sehr komprimiert so formulieren: Das zahlenmäßig eher als gesellschaftliche Minderheit einzuschätzende Phänomen der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen zeigt ein die quantitative Dimension beträchtlich übersteigendes Konfliktpotential, dessen Ursache vor allem die Qualität, d. h. Zustandekommen, Ausmaß, Zielsetzung und Folgen hier stattfindender Bindungen und daraus resultierender Lebensverbindlichkeiten ist. Einzelne Gruppen weisen darüber hinaus ein hohes politisches Konfliktpotential auf.
Dabei läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit hoher Sicherheit sagen:
Die individuell und im sozialen Nahbereich festzustellenden, aus solchen Bindungen und Verbindlichkeiten resultierenden Konflikte dominieren bei weitem. Dies betrifft Ehe und Familie, Eltern-Kinder-Verhältnis, körperliche und psychische Gesundheit, finanzielle Verpflichtungen etc. Die hier auftretenden Konflikte sowie deren Implikationen und Konsequenzen haben auch rechtliche - in selteneren Fällen strafrechtliche - Aspekte. Solche Bindungen im Bereich neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen samt genanntem Umfeld kommen in aller Regel nicht einseitig zustande, d. h. nicht allein als Folge unter Umständen manipulativer Werbe- und Konversionsstrategien von Gruppen und deren Protagonisten. Menschen suchen und finden hier Antworten auf individuelle und soziale Lebensprobleme und Sinnfragen und lassen sich deshalb auf mehr oder minder intensive Bindungen und Verbindlichkeiten ein. Dabei überwiegen die zeitlich begrenzten Engagements gegenüber Dauerbindungen. Die hier liegenden Probleme und Gefahren können beträchtlich sein, es muß jedoch auch der individuelle und soziale Zugewinn, den Menschen erfahren (können), mit in Betracht gezogen werden.
Ein zentrales Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kommission in diesem Zusammenhang ist, daß es keine spezifische "Sektenbiographie" gibt. Vielmehr muß für das Verständnis der Zuwendung zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen die gesamte individuelle Lebensgeschichte betrachtet werden. Es ist festgestellt worden, daß mit der Einmündung in derartige Gemeinschaften eine lebensgeschichtliche Problematik mit unterschiedlichem Erfolg bearbeitet wird. Ein Schlüsselwort in diesem Sinn ist die 'Passung'. Solche lebensgeschichtlich relevanten Aspekte müssen in der öffentlichen Diskussion stärker berücksichtigt werden.
Ein eigenes Thema sind Kinder und Jugendliche in neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen. Ohne die Probleme einer engen, rigiden und abschließenden Sozialisation zu verkennen, muß man sich vor Pauschalurteilen hüten. Ferner gilt auch hier das Elternrecht der religiösen Erziehung, und keineswegs können einseitig modernisierte Erziehungs- und Lebenskonzepte gegenüber traditional motivierten begünstigt werden. Zum Eingriff bei realer psychischer oder physischer Gefährdung von Kindern reicht das vorhandene rechtliche Instrumentarium. Es muß freilich besser bekannt sein und auch angewendet werden.
Die nicht zu bestreitenden religiösen und weltanschaulichen Motive und Implikationen der Zugehörigkeit zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen begrenzen staatliches Handeln. Der Staat hat gemäß der in Artikel 4 Grundgesetz festgeschriebenen Neutralität und Toleranz die Entscheidung und das Bekenntnis des Einzelnen zu seinem Glauben zu respektieren. Allerdings ist er zum Handeln verpflichtet, wo grundlegende Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger verletzt werden. Darüber hinaus kann und sollte der Staat in präventiver Weise über mögliche Gefahren aufklären.
Auch zeitlich oder vom Umfang des individuellen Engagements her begrenzte Bindungen und Verbindlichkeiten, etwa bei Angeboten des "Psychomarkts" und der Lebensbewältigungshilfe, können weitreichende Konsequenzen z. B. psychischer oder finanzieller Natur haben. Ohne Pauschalierung ist festzuhalten, daß zumindest ein Teil der in sogenannten "Psychogruppen" praktizierten oder auf dem Psychomarkt angebotenen Techniken und Therapien erhebliche Eingriffe in die menschliche Psyche darstellen können, so daß entweder auf Grund der Problematik der Techniken und Therapien selbst oder auf Grund ungekonnter Praxis Menschen seelischen und körperlichen Schaden erleiden können.
Die Annahme einer "Sekten-Konversion" durch eigene "Psychotechniken" wie
"Gehirn-, Seelenwäsche" oder "Psychomutation" ist zugunsten breiter angelegter Modelle aufzugeben. Gleichwohl kann es im Zusammenhang der Zugehörigkeit zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen zu Formen massiver psychosozialer Abhängigkeit kommen, zumal wenn dies durch bestimmte Techniken und Therapieformen gefördert wird. In diesem Zusammenhang sind zwar die Eigenaktivität und Selbstbestimmung des Einzelnen nicht aufgehoben, sie können aber massiv überlagert werden. Zumal labile, vulnerable und prämorbide Personen können hier besonders gefährdet sein.
Gezielt kriminelles Handeln und Verhalten ist feststellbar und wird durch die massive Innen-Außenspannung mancher Gruppen im Sinn einer potentiellen oder latenten Kriminogenität begünstigt, ist aber gegenüber den angesprochenen Konflikte im individuellen und sozialen Nahbereich sekundär.
Nur ein Teil der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen ist massiv konfliktträchtig. Hierbei ist auch die Dynamik der Gruppenentwicklungen mit zu berücksichtigen, entweder in Richtung Öffnung, Veralltäglichung etc. oder in Richtung Abschließung, Radikalisierung etc. Die Enquete-Kommission konnte sich bei ihren Gruppenanhörungen ein Bild davon machen, daß bei einigen in der Vergangenheit regelmäßig als hoch problematisch angeführten Gruppen Prozesse der Veränderung und Öffnung zumindest initiiert und auf den Weg gebracht sind. Hier ist die weitere Entwicklung abzuwarten. Auf jeden Fall ist vor einer undifferenzierten Fortschreibung einmal getroffener Zuordnungen zu warnen. Es können allerdings auch bei weniger konfliktträchtigen Gruppen einschneidende Konflikte von beträchtlicher Lebensrelevanz auftreten, z. B. im Zuge von religiös-weltanschaulichen Konversionsprozessen und daraus resultierenden Veränderungen im Leben Einzelner und von Gemeinschaften.
Bezüglich der laut Einsetzungsbeschluß hier besonders zu untersuchenden Gruppenstrukturen, Aktivitäten und Ziele ist festzustellen, daß diese zunächst und grundsätzlich nicht aus dem Rahmen von Religionen, religiöser Gruppen, Weltanschauungsgemeinschaften, aber auch anderer gesellschaftlicher Gruppen fallen. Es kann dem zumal religiösen und weltanschaulichen Gruppen eigenen Anspruch auf Verbindlichkeit in der Lebensführung, der damit u. U. verbundenen besonderen Ausprägung von Autorität, Tradition etc., eine latente Konfliktträchtigkeit eignen, die freilich als in sich unproblematisch anzusehen ist. Die Kumulierung solcher Merkmale, etwa starkes Autoritätsgefälle, massive Innen-Außen-Spannung ("Isolation" und "Insulation"), "dissidente Weltanschauungen" und "deviante Lebensformen", die Herausbildung totalisierender Gegen- und Subkulturen, kann eine beträchtliche Konfliktverschärfung bewirken. Für die Aktivitäten und Ziele gilt dies, wenn eine deutliche Differenz besteht zwischen vorgegebenen und realen, u. U. verdeckt verfolgten Zielen. Eine in diesem Sinn besonders ausgeprägte, quasi notorische Konfliktträchtigkeit kann Anlaß staatlicher Warnungen und Präventivmaßnahmen sein. Der Rekurs auf konkrete Einzelfälle bleibt jedoch unverzichtbar. Sie erfordern u. U. staatliches Eingreifen werden.
Im Phänomen der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen samt formell-informellen Umfeld und in den hier festzustellenden Konflikten zeigt sich in zum Teil konzentrierter Form gesellschaftlich-kultureller Wandel im Bereich von Werten, Überzeugungen, Traditionen, religiös-weltanschaulichen Zugehörigkeiten, Optionen und Angeboten. Diese als Folge von Modernisierung stattfindenden und sich zum Teil beschleunigenden Veränderungen bedeuten für Einzelne und für Gruppen zum Teil erhebliche Orientierungsschwierigkeiten. Hier liegt eine beträchtliche Herausforderung für alle gesellschaftlich relevanten Gruppen (Kirchen und Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Verbände, Parteien), Hilfe zu geben, die geistige und politische Auseinandersetzung zu führen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellen gesamtgesellschaftlich gesehen die neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen keine Gefahr dar für Staat und Gesellschaft oder für gesellschaftlich relevante Bereiche. Die hier zu beobachtenden Aktivitäten einiger Radikalorganisationen jedoch lassen Wachsamkeit, ggf. staatliche Gegenmaßnahmen angezeigt sein.
In diesem Zusammenhang sind besonders Angebote des Psycho- und Lebenshilfemarktes zu sehen, Seminarangebote zu Persönlichkeitsentwicklung, Unternehmens- und Managementberatung, Strukturvertriebe und Multi-Level-Marketing-Firmen mit den sogenannten "Schnellball-Systemen" als deren krasseste Form. Die Übergänge zwischen neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen und Trainingsschulungs- oder Direktvertriebsunternehmen können fließend sein.
Eine Sonderrolle in vielfacher Hinsicht kommt Scientology zu. Einerseits gibt es hier Aspekte, die mit eben genannten Elementen übereinstimmen, wo also Scientology ein besonders profiliertes Beispiel auch sonst anzutreffender Gegebenheiten ist. Auf der anderen Seite fällt Scientology doch soweit aus dem üblichen Rahmen, daß zumindest teilweise eine gesonderte Wahrnehmung angezeigt scheint. Insoweit können die hier festgestellten Aspekte nicht auf andere Gruppen übertragen werden. Für die Enquete-Kommission ist Scientology keine religiöse Gruppe.
In Konkretisierung der gegebenen Einschätzung der Situation und in Weiterführung der vor allem im vorigen Kapitel diskutierten rechtlichen Gesichtspunkte gibt die Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" die folgenden Handlungsempfehlungen.