5.5.2 Allgemeine Probleme bei rechtlichen Auseinandersetzungen

Hier ist zu unterscheiden zwischen der Situation, daß

- Bürgerinnen/Bürger und juristische Personen versuchen, Ansprüche gegen eine Gruppe durchzusetzen, und

- Gruppen versuchen, ihre Positionen mit juristischen Mitteln zu verteidigen oder offensiv zu vertreten.

Auch wenn es keine statistischen Erhebungen gibt, scheinen die letztgenannten Fälle zu überwiegen.

Dabei wird von den Gruppen häufig auf die Argumentationslinie zurückgegriffen, daß an ihr jeweils in Rede stehendes Verhalten wegen der durch Art. 4 GG verbürgten Religionsfreiheit andere bzw. besondere Maßstäbe anzulegen seien. So unterlägen beispielsweise kostenteure Dienstleistungen als religiöse Handlungen nicht der Steuerpflicht. Eine solche Argumentation trifft häufig auf ein Informationsdefizit einerseits bei den Prozeßvertretern der jeweiligen Gegenseite und andererseits bei den Richtern der damit befaßten Instanzgerichte. Die Bedeutung des in Anspruch genommenen Grundrechts der Religionsfreiheit führte daher bei Gerichten, aber auch bei Verwaltungen immer wieder zu Auslegungsunsicherheiten und daraus folgend zu der Neigung, im Zweifel zugunsten des - sei es zu Recht oder zu Unrecht in Anspruch genommenen - Grundrechts zu entscheiden.

5.5.2.1 Prozeßverhalten neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften
und Psychogruppen

Bei der Verfolgung ihrer Ziele, wozu auch die Unterdrückung von Kritik und Einschüchterung der Kritiker gehören kann, bedienen sich einzelne Gruppen sehr nachhaltig der vom Rechtsstaat bereitgestellten Möglichkeiten. Art und Umfang der juristischen Vorgehensweise entspricht in einigen Fällen den im amerikanischen Rechtswesen und dort speziell im Wirtschaftsrecht verbreiteten Methoden. Der strategische Einsatz eines breiten rechtlichen Instrumentariums als Bestandteil umfassender, offensiv oder aggressiv ausgerichteter Expansionsmethoden ist, zumindest im Zusammenhang mit "Religion" oder "Weltanschauung", in der deutschen Gesellschaft ungewohnt. Betroffene empfinden dieses prozeßfreudige Verhalten nicht selten als Einschüchterung. Es sind allerdings nur wenige Gruppen, die so vorgehen. Es sind in erster Linie Scientology bzw. Scientologen, der Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis, das Universelle Leben, die Transzendentale Meditation und Osho/Bhagwan. Dabei sind Gewichte und Intentionen unterschiedlich verteilt. Die Transzendentale Meditation und Osho/Bhagwan beschränken sich im Wesentlichen auf die Abwehr insbesondere staatlicher Äußerungen, während das Universelle Leben, aber vor allem der Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis und Scientology darüber hinaus auch sehr offensiv gegen Kritiker vorgehen. Diese sollen daran gehindert werden, unerwünschte Informationen zu verbreiten. Für diese Zwecke stehen den jeweiligen Gruppen offenbar ganz erhebliche Geldmittel zur Verfügung. So ist beispielsweise unwidersprochen davon die Rede, daß die International Association of Scientologists (IAS) über einen - früher ausdrücklich als "Kriegskasse" (war-chest) bezeichneten - Geldfonds verfügt, der zur Finanzierung der Bekämpfung von Kritikern eingesetzt wird. Nach einer Handlungsanleitung des Gründers von Scientology, L. Ron Hubbard, sollen Prozesse nicht in erster Linie geführt werden, um sie zu gewinnen, sondern um den Gegner damit zu zermürben. Dieser Taktik scheint Scientology in den USA zu folgen, wo die Organisation systematisch versucht hatte, Kritiker wie L. Wollersheim oder das Informationsnetzwerk CAN durch immer neue Klagen finanziell auszubluten. Kürzlich hat ein kalifornisches Gericht, gestützt auf eine neue, gegen den Justizmißbrauch gerichtete kalifornische Gesetzgebung ("Anti-SLAPP”) eine scientologische Klage wegen rechtsmißbräuchlicher Klageerhebung abgewiesen.

Auch in Deutschland wurde und wird versucht, kritische Berichterstattung durch prozessuale Maßnahmen zu verhindern. Abmahnschreiben, Klagandrohungen und Anträge auf Unterlassungsverfügungen gehören zum Alltag gruppenkritischer Autoren und Medien. Als vorteilhaft für die Gruppen erweist es sich dabei, daß sie die für Prozesse eingesetzten Mittel und personellen Ressourcen nicht betriebswirtschaftlich kalkulieren müssen, während auf Seiten der Angegriffenen stets die Frage der wirtschaftlichen Vertretbarkeit außergerichtlicher Auseinandersetzungen oder gerichtlicher Verfahren und der dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen gestellt werden muß. Das gilt erst recht für Privatpersonen. Daher ist die Feststellung vertretbar, daß die wirtschaftliche Stärke einiger Gruppen diesen spürbare Vorteile in rechtlichen Auseinandersetzungen mit Kritikern verschafft, und daß die Gruppen dies wissen und auszunutzen versuchen. Zur Taktik gehört auch der Versuch, kritische Äußerungen, die im Verlauf öffentlicher oder nichtöffentlicher Veranstaltungen zu erwarten sind, bereits im Vorfeld gerichtlich unterbinden zu lassen, was von den Betroffenen als versuchte Einschränkung ihrer Meinungs- und Redefreiheit empfunden wird. Über ähnliche juristische Auseinandersetzungen wird auch im Zusammenhang mit Rundfunk&endash; und Fernsehsendungen berichtet, die sich kritisch mit Gruppen auseinandergesetzt haben. Es bleibt allerdings festzustellen, daß solche Vorgehensweisen für nur wenige der angesprochenen Gruppen charakteristisch sind.

5.5.2.2 Typische Schwierigkeiten für Einzelne bei der rechtlichen
Auseinandersetzung

Wie schon geschildert, sehen sich Einzelne dadurch vor Probleme gestellt, daß sie nicht immer über ausreichende Finanzmittel verfügen, um das Prozeßkostenrisiko eines sich möglicherweise über mehrere Instanzen erstreckenden Verfahrens zu tragen. Um es an einem Zahlenbeispiel deutlich zu machen: Das Prozeßkostenrisiko kann schon in einem einstweiligen Verfügungsverfahren auf Unterlassung über zwei Instanzen bei einem für ein solches Verfahren durchschnittlichen Streitwert durchaus etwa 25 000,- DM betragen. Dies sind für Einzelne, aber auch für Unternehmen wie z.B. Verlage, Beträge von beachtlicher Größenordnung. Hinzu kann eine faktische Chancenungleichheit kommen, die sich daraus ergibt, daß die Gruppen in aller Regel den Streitstoff bereits kennen, ihre ”Hausanwälte” mit den rechtlichen Besonderheiten vertraut sind und sie über eine Vielzahl einschlägiger Argumentationsmuster, Schriftsätze, Dokumente usw. verfügen. Es wird daher häufig beobachtet, daß von Seiten der Gruppen sehr rasch umfangreiche Schriftsätze mit einer Fülle von Anlagen beigebracht und eingereicht werden können, die von den Gerichten auch dann, wenn es sich um wenig relevantes ”Füllmaterial” handelt, zunächst gelesen und gewürdigt werden müssen. Demgegenüber sieht sich ein einzelner Bürger bzw. eine einzelne Bürgerin, der bzw. die sich mit einer Gruppierung auseinandersetzen muß oder will, vor der Schwierigkeit, zunächst geeignete und in dieser Spezialmaterie versierte Rechtsvertretung zu erhalten.

Problematisch stellen sich beispielsweise die Fälle dar, bei denen Aussteiger versuchen, einen Teil der eingezahlten, nicht selten fünf- oder sogar sechsstelligen, Beträge zurückzuerhalten. Vielfach sind die Aussteiger verarmt, nicht selten ver- oder sogar überschuldet und zunächst ohne festes Einkommen. Die Verweisung auf die Möglichkeiten der Prozeßkostenhilfe hat nur begrenzten Wert. Auch wenn unterstellt werden kann, daß die wenigen mit der Problematik vertrauten Spezialanwälte auch für die (weit unterhalb der üblichen Sätze liegenden) Prozeßkostenhilfegebühren tätig werden, so bewirkt die Prozeßkostenhilfe nur die Entlastung von eigenen Kosten und Gebühren. Verliert jedoch die kostenarme Partei den Prozeß, hat sie dem Gegner dessen volle Gebühren zu erstatten. Eine solche Erstattungspflicht kann für eine ver- oder überschuldete Person ein unkalkulierbares und nicht zumutbares Risiko darstellen. In solchen Auseinandersetzungen haben wirtschaftlich starke Gruppen somit in rechtstatsächlicher Hinsicht Vorteile, die von einzelnen Betroffenen als so groß und so gravierend empfunden werden, daß bei ihnen häufig die Vorstellung entsteht, gegenüber solchen Gruppen faktisch rechtlos gestellt zu sein. Die an anderer Stelle dieses Berichtes erörterten Vorbehalte gegenüber ”Sekten” und ”Psychogruppen” beruhen auch auf dem Eindruck, gegenüber der wirtschaftlichen Potenz dieser Gruppen bei der Durchsetzung juristischer Positionen finanziell unterlegen und tendenziell ohnmächtig zu sein.

Betrachtet man die Fälle, in denen ein Einzelner gegenüber Gruppen sein Recht sucht, unterliegt der Einzelne als Kläger regelmäßig der Pflicht, die von ihm behaupteten Tatsachen zu beweisen. Dies scheint einfach, soweit urkundliche Belege existieren. Wird freilich von einer Gruppe bzw. deren Mitgliedern die Richtigkeit bestritten, kann sich der Einzelne nicht selten in einer Beweisnot befinden: Für gruppeninterne Vorgänge gibt es oft weder schriftliche Unterlagen noch neutrale Zeugen. Die in der Gruppe verbleibenden Mitglieder werden in der Regel nicht zu Gunsten eines Aussteigers aussagen, zumal wenn, wie bei totalitär strukturierten Gruppen wie z.B. Scientology, Ausstieg und Prozesse gegen die Organisation als ein so "verabscheuungswürdiges Verhalten" oder sogar als "Verbrechen" gelten, daß Anhänger sich daher legitimiert fühlen können, zu Lasten des Ausgestiegenen vor Gericht die Unwahrheit zu sagen. Vor allem diese Beweisnot macht es Ehemaligen außerordentlich schwer, etwa die Voraussetzungen der §§ 138 und 123 BGB (Sittenwidrigkeit bzw. Täuschung und Drohung bei Vertragsschluß), die zur Nichtigkeit von Vereinbarungen führen würden, in gerichtsverwertbarer Form zu beweisen. Die wenigen vorhandenen schriftlichen Unterlagen sind häufig von der Gruppe selbst verfaßt und rechtlich unangreifbar formuliert. Informelles Verhalten, z.B. die Ausnutzung einer Druck- oder Schwächesituation, und dessen Auswirkung auf die Entschließungsfreiheit des Betroffenen sind faktisch kaum nachweisbar. Für den ahnungslosen Neuling, etwa bei Management-Seminaren, sind geschickt ”verpackte” Indoktrinationsversuche naturgemäß nicht erkennbar. Später fällt es oft schwer, die einzelnen Elemente von Indoktrination als solche zu erinnern und, worauf es hauptsächlich ankommt, auch in gerichtsverwertbarer Form zu belegen.

Für diese Schwierigkeiten, gegenüber Gruppen Recht zu bekommen, drei Beispiele:

Im Arbeitsrecht beruft sich die Scientology-Organisation darauf, daß Arbeitsleistungen selbst dann, wenn sie 65 Stunden pro Woche und mehr betragen haben, nur als freiwillige Leistung zur Ausbreitung des ”scientologischen Glaubens” zu bewerten und demnach nicht regulär zu vergüten seien. Wegen der damit verbundenen Vorfrage, ob der Kläger überhaupt als Arbeitnehmer einzustufen und damit die Arbeitsgerichtsbarkeit zuständig war, ging die Klage eines ehemaligen Scientology-Mitarbeiters, der von der Organisation Arbeitslohn einzuklagen versuchte, zunächst durch alle 3 Instanzen bis zum Bundesarbeitsgericht, nachdem sich das Arbeitsgericht für unzuständig erklärt hatte. Erst durch eine Grundsatzentscheidung wurde klargestellt, daß ein so Tätiger als Arbeitnehmer mit allen entsprechenden Ansprüchen z.B. auf Sozialversicherung und Urlaub anzusehen ist. Der Prozeß konnte erst nach dieser Entscheidung wegen der Höhe der Vergütung vor dem Arbeitsgericht fortgeführt werden. Er dauerte insgesamt mehrere Jahre, in denen der Kläger seine durch die Zeit bei Scientology bedingten finanziellen Schwierigkeiten zu bewältigen hatte.

Im Bereich des Strafrechts ergeben sich zum Teil ganz erhebliche Beweisschwierigkeiten. Verurteilungen können nur dann ergehen, wenn ein Gericht ohne vernünftige Zweifel Tatsachen feststellen kann, die einen strafrechtlichen Vorwurf beinhalten. Staatsanwaltschaften können wiederum nur dann Anklage erheben, wenn eine Verurteilung bei vorläufiger Bewertung hinreichend wahrscheinlich erscheint. Häufig vorgebrachte Umstände wie die Erzeugung eines scheinbar unentrinnbaren psychologischen Drucks (sei es im Rahmen einer Nötigung zu einem bestimmten Verhalten, einer wucherischen Ausbeutung oder der Zustimmung zu gesundheitsgefährdenden Praktiken) lassen sich nur schwer nachweisen, zumal wenn nur die Aussage des Ehemaligen allein gegen mehrere Aussagen der Noch-Mitglieder steht.

Werden Kritiker in systematischer Weise durch herabsetzende, gefälschte und/oder verleumderische Äußerungen angegriffen und erstatten sie deshalb Strafanzeige, wird dies von vielen Staatsanwaltschaften nur als Bagatelle angesehen und oft mangels öffentlichen Interesses eingestellt. Dies wird von Seiten gruppenkritischer Bürger als Versagung des Rechtsschutzes, als faktische Beeinträchtigung ihrer Meinungs- und Äußerungsfreiheit und gelegentlich auch als einseitige Parteinahme des Staates zu Gunsten finanzkräftiger, klagefreudiger Gruppen angesehen.