5.2.1 Grundlagen
Die Familie bzw. die mit ihrer Veränderung einhergehenden neuen Lebensformen bilden jene Orte, in denen die Erziehung und Pflege der Kinder auf der Grundlage einer grundlegenden emotionalen Bindung in einem umfassenden und die ganze Person umgreifenden Sinne durch die Eltern bzw. die zentralen Bezugspersonen erfolgt. Dies stellt den grundlegenden Unterschied zu allen anderen Institutionen des Erziehungssystems dar, in denen in der Regel und unter Berücksichtigung der Autonomie der Lebenspraxis immer nur Teilausschnitte der Person Gegenstand der Erziehung sind oder es spezieller und distanzierter um Unterrichten, Bilden oder auch Beraten geht. Selbst hier kommt der Familie aber die zentrale Aufgabe zu, Kinder, vor allem aber Jugendliche, für diese erweiternden und transformierenden Erfahrungen "freizugeben", diese Erfahrungen zu unterstützen und zu ermöglichen.
Die Übermittlung und Weitergabe von Werthaltungen, Glaubensüberzeugungen und auch religiösen Vorstellungen an die folgende Generation stellt somit eine zentrale Funktion der Familie bzw. familienanaloger Lebensformen und der Milieus dar, in die sie eingebettet sind. Die Weitergabe religiöser Lebensformen ist als solche also kein Problem. Auch die erzieherische Vermittlung von - gegenüber den großen Volkskirchen - "abweichenden" religiösen Anschauungen und Glaubensprinzipien kann angesichts einer Pluralisierung religiöser und areligiöser Weltanschauungen nicht als problematisch verstanden werden. Im Gegenteil: Die Achtung und Anerkennung pluraler, kulturell heterogener Lebensformen und Weltanschauungen ist ein unhintergehbarer Bestandteil einer posttraditionalen Ethik der Anerkennung von Vielfalt.
Problemerzeugend und konflikthaft kann eine religiös und weltanschaulich präformierte Erziehung - wie jede andere auch - somit nur aufgrund ihrer ganz spezifischen Inhalte, der vermittelten spezifischen Normen und Werte, des geforderten konkreten Umgangs mit Kindern und Jugendlichen, der im Namen religiöser Erziehung begangenen Übergriffe, Schädigungen, Mißhandlungen oder auch Mißbräuche von Kindern und Jugendlichen sein. Bezugspunkt sind hier die grundlegenden rechtlichen Bestimmungen des § 1 Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII; Kinder und Jugendliche): "(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." Staatliche Eingriffe, also die Ausübung des staatlichen Wächteramtes, im Sinne einer "Hilfe zur Erziehung" (§ 27 SGB VIII) oder einer "Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen" (§ 42, SGB VIII) erfolgen dann, "wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist" (§ 27, 1) bzw. "wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet" (§ 42, 2) oder "eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert" (§ 42, 3). Bezugspunkt ist hier die Abwendung von Gefahr gegenüber dem körperlichen, geistigen und seelischen Kindeswohl, was zur Entziehung des Sorgerechts berechtigt (vgl. § 1666 BGB). Der konkreten Motivierung, Legitimation oder Begründung für die Zufügung körperlicher, geistiger oder seelischer Schädigungen auf seiten der Eltern kommt hier in der Regel keine Relevanz zu. Auch wenn Eltern sich auf die Freiheit der Religionsausübung beziehen, können Gefährdungen des Kindeswohls dadurch nicht legitimiert werden.
Bei der Einschätzung von Übergriffen, Schädigungen oder der Behinderung von Bildungs-, Entwicklungs- und Individuationsprozessen, die dem "Wohl des Kindes/Jugendlichen" schaden, treten generell erhebliche Diagnose- und Bewertungsprobleme auf, insbesondere gegenüber subtilen psychischen Formen und bei der Einschätzung einer Schädigung von Individuations- und Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Probleme bei der Diagnose der Verbreitung und milieuspezifischen Verteilung von Kindesmißhandlungen und -schädigungen treten für neue religiöse Bewegungen und Gruppen besonders deutlich zutage. Wie die Anhörung der psychologischen und erziehungswissenschaftlichen Experten im Rahmen der Enquete-Kommission nahezu übereinstimmend ergab, erlaubt die Vielfalt der Gruppen und die Forschungslage zur Situation von Kindern in derartigen Milieus keine abgesicherten Aussagen. So kann keineswegs abgesichert behauptet werden, daß die Gefahr für Heranwachsende, in neuen religiösen Bewegungen und Gruppen Opfer von physischen oder psychischen Mißhandlungen bzw. Schädigungen zu werden, generell größer ist, als in anderen Milieus. Das Ideal bzw. die Aufforderung, Kinder zur Selbständigkeit zu befähigen, darf nicht zur staatlichen Kontrolle von Autonomie führen. Dadurch würden konventionelle und traditionale Formen der Lebensführung, die andere Erziehungsideale verfolgen, zur Abweichung erklärt und staatlicherseits reglementiert. Daß elterliche Erziehungshaltungen die Autonomie des Kindes nicht hinreichend fördern oder diese auch behindern, findet sich darüberhinaus in verschiedensten Erziehungsmilieus und ist keinesfalls ein alleiniges Kennzeichen von "Sekten-Kindheit" oder von Familien in neuen religiösen Milieus. Von daher muß der Eindruck vermieden werden, daß es lediglich neureligiöse Gruppierungen seien, die eine "Erziehung zur Abhängigkeit und Unselbständigkeit" betreiben.
Deshalb können hochproblematische, das geistige, seelische und körperliche Kindeswohl verletzende, autonomienegierende und mißhandelnde Erziehungsvorstellungen und -praktiken neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen nicht generalisiert unterstellt werden. Hier können allenfalls Gefährdungspotentiale vermutet und verdeutlicht werden, die aber in jedem Einzelfall spezifisch geprüft und ausgewiesen werden müssen.
Erziehungsorientierungen im Rahmen weltanschaulich-religiöser Sondergemeinschaften stehen allerdings häufiger in einem mehr oder weniger starken Spannungsverhältnis zu den Prinzipien einer modernisierten Lebensführung, wie sie für die Bewältigung der soziokulturellen Anforderungen in den westlichen Gesellschaften erforderlich sind. Allerdings erzeugen die fortschreitenden Modernisierungsprozesse und kulturellen Aufstörungen gerade für traditional-religiöse Lebensformen erhebliche Belastungen. Verstärkte Abschließungen oder "fundamentalistisch" anmutende Haltungen können auch den Versuch darstellen, diese Modernisierungslasten zu bewältigen. Die Destabilisierungen und Enttraditionalisierungen können wesentlich dazu beitragen, daß Menschen gegenüber den Verunsicherungen einer eigenverantworteten, offenen und reflexiven Lebensform nach neuen Einbindungen und Sicherheiten suchen. Diese Bewältigungsversuche dürfen keineswegs nur eindimensional als - gegenüber den modernen Prinzipien der Lebensführung - defizitäre oder problemerzeugende Lebensformen abgewertet werden. Vielmehr bilden diese Lebensformen auch Möglichkeits- und Stabilisierungsräume aus, um die Belastungen hochmodernisierter sozialer Anforderungen ertragen zu können (vgl. auch Kap. 3.1).
Diese konflikthafte und zugleich Bewältigungsmöglichkeiten eröffnende Spannung zu Prinzipien der modernisierten Lebensführung kann unterschiedliche Formen annehmen, die - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - nur kurz skizziert werden können:
a) kann dies in Form einer straf- und schuldorientierten Einforderung asketischer, lust- und leibfeindlicher Haltungen geschehen, die einerseits zu kulturellen Freisetzungen und Erlebnisorientierungen in einem Spannungsverhältnis stehen, andererseits aber auch klar strukturierte moralische Ordnungen mit verbindlichen Orientierungen eröffnen. Für Heranwachsende können dadurch zwanghafte, schuld- und schambelastete Erziehungsmilieus entstehen, andererseits aber auch - bei emotional sicheren Eltern-Kind-Beziehungen - struktur- und haltgebende Sozialisationsräume.
b) sind Formen der Abhängigkeit und der Anweisungsgebundenheit bis in alltägliche Belange hinein gegenüber religiösen Lehrern und Heilsverkündern festzustellen, mit Einschränkungen aber auch Entlastungen gegenüber den Erfordernissen lebenspraktischer Autonomie, individualisierter Lebensführung und Entscheidungserfordernissen (vgl. Kap. 3.1). Für Heranwachsende kann daraus eine Erschwerung von Individuationsprozessen resultieren, wenn Verselbständigungsschritte immer auf die Übereinstimmung mit einer absoluten Autorität bezogen bleiben. Andererseits können Heranwachsende auch - in gemeinsam geteilten Lebenszusammenhängen - die Erfahrung idealisierungsfähiger Personen machen, die wiederum für die Entwicklung des Selbst bedeutsam werden können.
c) kann dies auch die Form einer Steigerung und einseitigen Verabsolutierung moderner Prinzipien annehmen: etwa Durchsetzungsfähigkeit, Selbstbehauptung und Gewinnorientierung, das als Erziehungsziel und -absicht auch für den Umgang mit Kindern bedeutsam wird. Einerseits entsprechen derartige Haltungen durchaus gesellschaftlich dominanten Anforderungen, auf die Kinder und Jugendliche orientiert werden. Problematiken entstehen andererseits vor allem dann, wenn dadurch emotional stabilisierende, kompensatorische Räume auch für Kinder und Jugendliche verloren gehen. Strukturell ähnliche Problematiken ergeben sich allerdings in diesseitig orientierten Erziehungsmilieus, in denen Status- und Erfolgsorientierung - eine Art "innerweltlicher Heilsplan" sozialen Aufstiegs - den elterlichen Umgang mit Kindern bestimmt. Daraus kann für Heranwachsende als eine Lösungsform die Hinwendung zu neuen religiösen, entlastenden Heilsversprechungen resultieren - eine "Resakralisierung" des Selbst als Ergebnis seiner weitgehenden "Entsakralisierung".
d) sind kontemplative, weltabgewandte Haltungen festzustellen, die den Prinzipien einer eigenverantworteten, aktiven Lebensführung entgegenstehen. Daraus kann einerseits die Problematik resultieren, im Umgang mit Kindern und Jugendlichen der Förderung von Selbständigkeit und aktiver Lebensgestaltung einen zu geringen Stellenwert einzuräumen und diese damit unzulänglich auf die Bewältigung moderner sozialer Anforderungen vorzubereiten. Andererseits ermöglichen diese Haltungen auch eine Distanzierung gegenüber den sozialen Statuszwängen und können kompensatorische Räume für Kinder und Jugendliche bereitstellen, ohne daß eine aktive Lebensgestaltung generell behindert wird.
e) sind hedonistisch-ekstatische Haltungen in neuen religiösen Milieus anzutreffen, die einerseits in einem Spannungsverhältnis zu rationalisierten sozialen Handlungsanforderungen stehen, andererseits aber auch an Erlebnisorientierungen anknüpfen und einer sinnlich-emotionalen Verödung des Alltages entgegenwirken (vgl. Kap. 3.1). Diese hedonistischen, erlebnishaften Ansprüche von Eltern können gegenüber Kindern zu libertinär anmutenden Formen der Vernachlässigung führen, andererseits aber auch ein reichhaltiges, emotionales und die sinnliche Erfahrung anregendes Erziehungsmilieu für Kinder bieten.
f) lassen sich auf den ersten Blick sprunghaft wirkende und durch schnelle Wechsel von Zusammenhängen gekennzeichnete Lebensformen finden, in denen innerhalb weniger Jahre verschiedene religiöse Gruppen oder Szenen durchlaufen werden oder die parallel an verschiedenen religiösen Gruppen partizipieren und diese individualisiert verbinden. Diese auch als "polytheistische", "privatisierte religiöse Sinnbricolage", "okkasionelle" Haltung oder "Patchwork-Religiosität" bezeichneten Formen erscheinen einmal als Ausdruck tiefreichender Identitäts- und Orientierungskrisen gegenüber den selbständig zu erbringenden Orientierungen und Entscheidungen. Andererseits erscheinen diese Lebensformen als Ausdruck individualisierter Suchbewegungen, als produktive Haltungen des Umgangs mit einer radikalisierten Pluralität, wie sie für weit modernisierte oder auch "postmodern-moderne" Gesellschaften kennzeichnend sind (vgl. Kap. 3.1). Für Kinder und Jugendliche, die in derartigen Milieus aufwachsen, können daraus zum einen Orientierungsprobleme und Verunsicherungen resultieren, da sie sich immer wieder neu mit veränderten Orientierungen und Gruppenbezügen konfrontiert sehen. Zum anderen ist es für Kinder und Jugendliche in derartigen Lebensformen auch möglich, früh einen offenen, wenig angstbesetzten Umgang mit fremden, vielfältigen Sinnentwürfen zu machen und damit eine Einsozialisation in einen kreativen Umgang mit einer umfassenden kulturellen Pluralisierung zu erhalten.
Wesentlich ist, daß die "möglichen" aber keineswegs notwendigen Konfliktlinien, immer auf Auseinandersetzungen mit den hoch modernisierten Prinzipien der eigenverantwortlichen Lebensführung verweisen. In diesen Konfliktlinien deuten sich zugleich Ausblendungen, Folgeprobleme und Lasten an, die als spannungsreiche Probleme durch die hochmodernen Anforderungsverhältnisse selbst erzeugt werden. Auch hier ist anzumerken: Wenn Eltern einer religiösen Sondergemeinschaft oder Bewegung angehören, deren Werte, Lebensformen und Glaubensvorstellungen in Spannung zu dominanten modernisierten, westlichen Wertmustern stehen, ist daraus noch keine generelle Bedrohung für Kinder abzuleiten. Derartige Überzeugungen können auch als Ausdruck einer aktiven Auseinandersetzung der Eltern mit den sozialen Lebensbedingungen und einer parteilichen Anwaltschaft für die kindliche Zukunft gedeutet werden - etwa in der Kritik einer auf Konkurrenz und Abgrenzung zentrierten Lebensform, wie sie für Kinder und Jugendliche etwa in der Dominanz des individualisierten Leistungs- über das integrative Sozialprinzip in der Schule erfahrbar werden kann.
Die Beurteilung der Gefährdung von Kindern und Jugendlichen in neuen religiösen Bewegungen und Gruppen beruht oft auf spektakulären Einzelfällen. Für die genauere Beurteilung der Erziehung und möglicher Gefährdungen bzw. Belastungen von Kindern sind aber die folgenden drei Überlegungen zu berücksichtigen:
Erstens darf nicht kurzschlüssig von programmatischen Äußerungen auf die tatsächliche Realität der Beziehungen zwischen Eltern, Kindern oder Jugendlichen geschlossen werden. So können Eltern ihre Erziehungsvorstellungen unterschiedlich stark an religiösen Glaubensvorstellungen orientieren, auch in scheinbar geschlossenen religiösen Milieus. Diese religiös vorstrukturierten Erziehungshaltungen können durch andere elterliche Orientierungen relativiert und damit in ihrer Alltagsbedeutung eingeschränkt werden. Zwischen der programmatischen Äußerung zur Erziehung von Kindern und den tatsächlichen Eltern-Kind-Beziehungen liegen somit viele Vermittlungsschritte und -ebenen, die eher in einem "lose gekoppelten" Zusammenhang stehen. Erschwerend für die valide Einschätzung pädagogischer Orientierungen und Handlungen in neuen religiösen Gruppierungen ist, daß empirische Analysen des realen pädagogischen Umgangs mit Kindern und Jugendlichen fehlen, was insbesondere auch von den erziehungswissenschaftlichen und psycholgischen Experten in der Anhörung der Enquete-Kommission beklagt wurde. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Analyse der Erziehungskonzeptionen irrelevant wäre. Darin können "pädagogische Sinnstrukturen" erschlossen werden, die auf eine spezifische "Anfälligkeit" der jeweiligen Gruppen für pädagogische Probleme hinweisen können, ohne daß diese sich im Umgang mit Kindern und Jugendlichen generell ereignen müssen.
Zweitens bilden neue religiöse Gruppen und Bewegungen keine homogenen Lebensräume, selbst nicht in stärker gegen die Umwelt abgeschirmten religiösen Gruppen. Zwar kann in derartig abgeschirmten und überschaubaren Zusammenhängen die direkte Sozialkontrolle und der Konformitätsdruck sehr stark werden. Aber zum einen trifft dies für viele Milieus nicht zu und zum anderen finden auch in diesen durch starke Sozialkontrolle gekennzeichneten Zusammenhängen mikropolitische Auseinandersetzungen um die "richtige" Interpretation des Glaubens, die Ausgestaltung des religiösen Lebens und seiner Regeln, die Haltung und Offenheit gegenüber der "Umwelt", um Macht und Einfluß und eben auch den Umgang mit Kindern und Jugendlichen statt. Neue religiöse Gruppierungen sind somit intern selbst differenziert.
Drittens stellt jede Beurteilung über die Kindererziehung in neuen religiösen Bewegungen immer nur eine Momentaufnahme aus einer prozeßhaften Entwicklung dar und muß somit für Veränderungen offen gehalten werden.
Mit diesen Relativierungen sind die folgenden, exemplarisch ausgewählten Darstellungen zu Erziehungsvorstellungen und die Berichte über den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in neuen religiösen Gruppen und Bewegungen zu lesen.
5.2.4. Zur Situation von Kindern und Jugendlichen in neuen religiösen
Bewegungen und Gruppen
In Schätzungen wird von Expertenseite von etwa 100.000 bis 200.000 Kindern und Jugendlichen ausgegangen, die im Rahmen neuer religiöser Gruppen und Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland aufwachsen. Auch hier fehlen statistisch verläßliche Zahlen. Aber selbst die Untergrenze von ca. 100.000 verdeutlicht, daß eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen in diesen Milieus und Lebensformen aufwachsen. Auf der Grundlage vorliegender Berichte und Studien werden im folgenden Hinweise auf pädagogische Risiken gegeben, wie sie sich im Rahmen spezifischer Gruppen und Bewegungen typischerweise ergeben können. Dabei werden einzelne Gruppen und Bewegungen aus dem Spektrum von christlichen oder christlich orientierten, okkulten, fernöstlich bzw. hinduistisch orientierten bis hin zu neueren therapeutisch-lebenshilfeorientierten und schließlich im Dreieck von Politik, Ökonomie und Glauben angesiedelten Gruppen beispielhaft behandelt.
5.2.4.1 Die Vereinigungskirche
In der Vereinigungskirche des koreanischen Religionsstifters San Myung Mun, die christliche und fernöstliche Traditionen verbindet, sind Familie und Elternschaft von zentraler Bedeutung. Reverend Mun und seine Frau werden als die "wahren Eltern" gesehen, die als Statthalter Gottes fungieren, mit der Aufgabe, eine "vollkommene Familie" zu gründen, die die vollkommene Menschheit ermöglichen soll. Die "wahre Familie" soll die "Wiederherstellung" der durch den Sündenfall verlorenen und zerstörten "Vollkommenheit" ermöglichen. Sie sollen als neuer, vollkommener Adam und neue, vollkommene Eva den Sündenfall aufheben - der durch die Verführung Evas durch Satan entstand - und damit das Werk von Jesus vollenden, eine neue sündlose, vollkommene Familie zu erzeugen. Die Hochzeit Muns mit Hak-Ja-Han 1960 wird als "Hochzeit des Lammes" und als Wiedergutmachung der Kreuzigung begriffen, womit die Voraussetzung geschaffen ist, "sündlose Kinder" zu zeugen und damit eine reale Blutslinie zu gründen, die nicht der "Eva-satanischen Linie" angehört, sondern eine göttliche Blutslinie der menschlichen Vollkommenheit, des "Himmlischen Königsreichs" eröffnet. Ziel ist die umfassende Durchsetzung dieses Himmlischen Königsreiches auf Erden durch eine Art Endkampf oder "Dritten Weltkrieg" mit den satanischen Kräften und darin zugleich die Erlösung der Totengeister aus ihrem Zwischenreich, eine Haltung, die insgesamt die intensive Missionstätigkeit erklärt.
In der Vereinigungskirche wird "Familie" und "Elternschaft" besonders hoch geschätzt, allerdings in Form der strikten Orientierung und Unterstellung unter die "wahre Familie", was etwa im "Gelöbnis" exemplarisch zum Ausdruck kommt. Insbesondere das Ritual des "Blessing", der Segnungen von Paaren (auch als "Massenhochzeit" bezeichnet), bringt dies zum Ausdruck: Denn im "Blessing" werden die Paare "adoptiert" und damit zu Kindern der "wahren Familie". Die "Heirat" mündet somit in ein neues "Kindschaftsverhältnis" und die Gründung der eigenen Familie - die zumindest zum Teil auf Vorschlag von Mun erfolgt (das sogenannte "Matching"), auch wenn dies nicht generell der Fall ist und es die Möglichkeit der Zustimmungsverweigerung gibt - versetzt die Eltern wieder in den Status von Kindern zurück, nun gegenüber der "wahren Familie". Dies zeigt sich etwa auch in Vorschriften und Anweisungen, die tief in die Intimsphäre und die alltägliche Praxis eingreifen. Damit aber sind die Eltern als eigenständige Personen und kindliche Identifikationsfiguren tendenziell entwertet und andererseits sind die Kinder der konkreten Familie vor allem auch Kinder der "wahren Familie". Dies mag auch die immer wieder vorkommende Praxis - die, wie von seiten der Vereinigungskirche betont wird, allerdings freiwillig sei - der Adoption von Kindern erklären, die an kinderlose Paare abgegeben werden.
Vor diesem Hintergrund können problematische Haltungen gegenüber Kindern in der Vereinigungskirche vor allem darin gesehen werden, daß auch Kinder - analog zu den "Erwachsenen" - auf die unbedingte "göttliche" Autorität von Mun orientiert werden. Diese Orientierung auf eine unumstößliche Autorität und die tendenzielle Entwertung der Eltern als eigenverantwortliche Identifikationsfiguren für die Kinder können die Grundlegung einer autonomen Lebensführung für die Heranwachsenden in der Familie erschweren. Daneben kann es sowohl auf seiten der Kinder als auch auf seiten der Eltern zu einem distanzierten Verhältnis kommen. Die Grundlage einer unauswechselbaren, emotionalen Eltern-Kind-Beziehung kann dadurch beeinträchtigt werden. So kann Schöll in einer empirischen Fallanalyse verdeutlichen, daß die Gefahr besteht, daß die Familienorientierung bei Anhängern der Vereinigungskirche lediglich äußerlich bleibt und einer übergreifenden Verpflichtung gegenüber Mun geopfert wird. Auf der lebenspraktischen Ebene kann damit die Gefahr einer sozialen und interaktiven Bindungslosigkeit entstehen. Obwohl diese Ergebnisse nicht verallgemeinert werden können, deuten sie doch auf eine pädagogische Problemzone im Eltern-Kind-Verhältnis bei Anhängern der Vereinigungskirche hin. Schließlich kann für Kinder auch darin eine besondere Belastung bestehen, daß sie im Kampf gegen die satanischen Kräfte und die Rettung der Menschheit in einen umfassenden "Heils- und Rettungsplan" eingebunden werden und als sündlos Geborene der ersten Generation einem besonderen Missionsdruck ausgesetzt sind. Darin ruht die Gefahr, daß von klein auf starker Druck sowie hohe Ansprüche und Erwartungen auf ihnen lasten und sie bei "Versagen" starke Schuldgefühle entwickeln können, da sie schuldig werden am Weiterbestehen der satanischen Kräfte und der Gefährdung des Heilsplans.
5.2.4.2 Fundamentalistische Strömungen in Gruppen und Bewegungen
christlicher Herkunft
Diese Bewegungen bilden ein facettenreiches Konglomerat von kleineren Zirkeln, Gemeinden um einzelne charismatische Persönlichkeiten und größere Gruppierungen mit steigendem Zulauf, zumeist außerhalb der großen Kirchen und der Freikichen, aber durchaus auch mit Überlappungsbereichen in die Kirchen hinein. Die grundlegenden Glaubensvorstellungen sind - bei der großen Unterschiedlichkeit und Differenziertheit der Gruppierungen, Gemeinden und kleinen Zirkel - kaum übergreifend zu formulieren. Von daher sollen im folgenden nur einige für den Umgang mit Heranwachsenden problematische Linien skizziert werden, die in einigen Strömungen verstärkt auftreten und mit spezifischen Glaubensauffassungen in Zusammenhang stehen können. Dabei bleibt hervorzuheben, daß die folgenden Phänomene keineswegs für alle Strömungen dieses religiösen Spektrums gleichermaßen zutreffen und auch dort, wo sie deutlicher ausgeprägt sind, keinesfalls zu generalisieren sind.
So läßt sich eine mitunter deutliche Befürwortung diziplinierender, körperlicher Züchtigungen feststellen, auch wenn ausufernde Formen körperlicher Bestrafung zurückgewiesen und kritisiert werden. Die Befürwortung derartiger körperlicher Züchtigungspraktiken findet sich - dies muß relativierend angemerkt werden - auch in anderen religiösen Milieus. Eine Bejahung körperlicher Bestrafungen ist darüber hinaus kein Spezifikum religiöser Gruppen, sondern findet sich als Erziehungsorientierung auch in areligiösen Lebensformen und Milieus. Wenn man einer repräsentativen Umfrage des EMNID-Institutes Glauben schenkt, dann sind es lediglich 39 Prozent der Väter und Mütter, die körperliche Züchtigung ablehnen. Dies relativiert zwar nicht die Problematik einer Befürwortung körperlicher Bestrafungen durch Gruppierungen in diesem religiösen Spektrum, verdeutlich allerdings, daß es sich hier keineswegs um eine singuläre Erscheinung in spezifischen religiösen Gruppierungen handelt.
Daneben können aus den Vorstellungen einer ständigen Drohung und Präsenz des "Bösen" auch starke Selbstüberwachungs- und Kontrollpraktiken bei Heranwachsenden entstehen, die mit starken Schuldgefühlen und Selbstbestrafungen einhergehen, wie sie für rigide und rigoristische Über-Ich-Bildungen durchaus typisch sind. Gefährdungen für die psychische Integrität Heranwachsender können dabei vor allem im Rahmen intensiver dämonologischer Vorstellungen auftreten.
Ein strikter dämonologisch unterlegter Dualismus kann im Zusammenhang mit kindlichen und jugendlichen Selbstkrisen und Entwicklungsprozessen zu starken Ängsten, okkulten Vorstellungen und Verfolgungsphantasien führen. Diese kindlichen und jugendlichen Ängste, von bösen Käften verfolgt oder von dunklen Kräften in Besitz genommen zu werden, finden in dämonistischen Vorstellungen einen Nährboden. Derartige Glaubensvorstellungen sind keineswegs auf dieses religiöse Spektrum beschränkt, sondern finden sich durchaus auch in traditionalistisch-katholischen oder rigoristisch-evangelikalen Milieus. Dabei muß allerdings auch hier relativierend festgehalten werden: Derartige starke Ängste, Verfolgungsgefühle und Selbstbestrafungshaltungen bei Heranwachsenden entstehen wohl nur dann in dieser Dramatik, wenn auch die Eltern-Kind-Beziehungen selbst stark ambivalent ausgestaltet sind. Denn dann formt sich die Ambivalenz von Gut und Böse, von Beschützer und Verfolger, von Liebe und Haß auch als Strukturmoment der Beziehung zwischen Eltern und Kindern aus. Dann können sich diese ambivalenten Beziehungen der Kindheit mit der dämonologischen Vorstellungswelt verbinden und daraus ihre Verfolgungs- und Überwältigungsbilder entnehmen. Im Rahmen der Adoleszenzkrise und jugendlicher Ablösungsprozesse kann es dann zu einem Oszillieren zwischen Gut und Böse und zu einer mehr oder weniger weitreichenden Identifikation mit dem Bösen als Ausdruck der strikten Ablösung und Negation der familiären Tradition kommen. Dies kann sich - wie in Falldarstellungen exemplarisch deutlich wird - auch in Gestalt "satanistisch" inspirierter Praktiken und Vorstellungen äußern.
5.2.4.3 Hinduistische und meditative Strömungen
Auch das Spektrum hinduistischer Strömungen ist zu differenziert, als daß hier allgemeine Prinzipien formuliert werden könnten. Für die Problematik von Kindern und insbesondere Jugendlichen sind vor allem die sogenannten, häufig hinduistisch beeinflußten und meditativ orientierten "Jugendsekten" oder "-religionen" der siebziger und achtziger Jahre bedeutsam gewesen. Gruppierungen wie etwa Bhagwan, Hare Krishna, Transzendentale Meditation, Ananda Marga etc. repräsentierten diese Strömung. Im Vordergrund standen damals Konflikte um den Abbruch der Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Familien, die Abschottung von Außenbeziehungen, autoritäre Strukturen und Unterwerfungsforderungen in den Gruppen, Ausbeutung und Vereinnahmung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Gruppen, schließlich destruktive Zuspitzungen in Form von Selbstverbrennungen, Selbstmorden, Mordanweisungen und Gesetzesverstößen im Rahmen von Zentrumsgründungen (etwa für Osho (früher Bahagwan) in Oregon, Hare Krishna in den Rettershof-Vorfällen etc.). Inzwischen aber - darauf wurde bereits verwiesen - hat es wichtige Veränderungen und Entwicklungen innerhalb dieser Gruppen und Bewegungen gegeben. Bei Osho finden sich inzwischen kritische Auseinandersetzungen mit der Oregon-Phase und der Guru-Position und insbesondere bei ISKCON zeigen sich deutliche selbstkritische Reflexionen und Bemühungen, in einen Dialog mit Kritikern, Eltern, dem regionalen Umfeld und der Öffentlichkeit einzutreten. Diese betreffen vor allem die Rolle der Frau und damit auch geschlechtsspezifischer Stereotype und Erziehung in ISKCON, die Relativierung der Abschließung von der Umwelt in Form von Tempeln zugunsten einer stärkeren "Gemeindeorientierung", die Relativierung einer Orientierung von Kindern auf "Gurukula"-Schulen und relativ abgeschlossene Milieus zugunsten einer stärkeren Integration in die umgebende Kultur, vor allem die deutliche Abwendung des ehemals praktizierten Umganges mit Eltern und Familien von Jugendlichen, die zu ISKCON stoßen. Hier sind wohl "Lernprozesse" einer ehemaligen "Jugendreligion" festzustellen, die sich inzwischen damit auseinanderzusetzen hat, daß den "Kindern der Bewegung" nicht die Möglichkeit genommen wird, sich - trotz alternativer Lebens- und Glaubensorientierungen - in die westliche Kultur zu integrieren. Auch wenn die Erziehungsvorstellungen weiterhin deutliche Unterschiede und Spannungsmomente zu westlichen Mustern der Lebensführung aufweisen, wird der Versuch einer Balance zwischen Krishnaorientierung und westlicher Lebensführung deutlich. Dadurch werden die Möglichkeiten für eine reflexive soziale Integration von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang von ISKCON gestärkt.
Insgesamt läßt sich angesichts der Veränderungen und Entwicklungen kaum ein einheitliches Bild der Erziehungsorientierungen oder des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen im Spektrum hinduistisch-meditativer Gruppierungen entwickeln. So berichtete eine Aussteigerin aus Ananda Marga in der Anhörung vor der Enquete-Kommission zur Situation von Kindern und Jugendlichen, daß sie - zumindest in Europa, während ihr in Indien andere Erziehungspraktiken begegnet seien - überwiegend positive, eher durch laissez-faire-Haltungen und größere Freiräume gekennzeichnete Beziehungen von einfachen, zumeist alternativ-gegenkulturell orientierten Ananda-Marga-Mitgliedern zu ihren Kindern erlebt habe. Der Umgang mit den Kindern sei ihr liebevoll erschienen.
Demgegenüber werden vor allem aus dem Umfeld um Sant Thakar Singh auch aus den neunziger Jahren Praktiken der Zwangsmeditation von Kindern berichtet, die deutliche Formen von Kindesschädigung und -mißhandlung darstellen. So berichtete eine Betroffene im Rahmen der Anhörung vor der Enquete-Kommission von ihrem Leben mit ihrem zweijährigen Kind in einem Zentrum der Gruppe. Das zweijährige Kind habe etwa 10 bis 12 Stunden mit verschlossenem rechten Ohr und verbundenen Augen täglich meditieren müssen und sei dabei von seinem Vater festgehalten worden. Es habe dieses halbe Jahr kein Spielzeug gehabt, teilweise nur kalt baden und ausschließlich mit Augenbinde essen dürfen. Das Kind habe nach einigen Tagen, in denen es so in der Meditation gehalten worden sei, jeden Widerstand aufgegeben. Dies sei für die Erwachsenen nach der Lehre von Sant Thakar Singh ein Zeichen dafür gewesen, daß es sich jetzt wohl fühle, sein negatives Gemüt gebrochen und seine Seele nun rein sei. Da die kindlichen Bedürfnisse, z.B. Hunger und Durst, ignoriert worden seien, sei auf seiten des Kindes, verbunden mit der Erfahrung nicht wahrgenommen zu werden, eine völlige Apathie eingetreten. Es habe mit dieser Haltung im Zentrum als Vorzeigekind gegolten. Die traumatischen Erfahrungen des Kindes und deren Folgen hätten nach dem Austritt der Mutter aus der Gruppe eine Therapie, die noch andauere, erforderlich gemacht.
Diese Formen kindlicher Zwangsmeditation können für hinduistische Gruppierungen keineswegs verallgemeinert werden. Allerdings zeigt sich an diesem extremen Beispiel, wie bereits für Erwachsene potentiell bedrohliche Formen intensiver und langdauernder Meditationsverfahren für kleine Kinder zu weit stärkeren Belastungen und Gefährdungen führen können. Auf diese verstärkte und bedrohlichere Wirkung von psychischen Verfahren im Rahmen von neuen religiösen Bewegungen und Psychogruppen gerade für Kinder, die sich in sensiblen Entwicklungsphasen befinden, noch kein starkes Ich ausbilden konnten, in stärkeren Abhängigkeiten stehen und weniger relativierende Erfahrungen besitzen, wurde von seiten der psychologischen Experten in der Anhörung zur Situation von Kindern und Jugendlichen in der Enquete-Kommission hingewiesen.
5.2.4.4 Scientology
Die Association for Better Living and Education (ABLE) ist im System der Scientology-Organisation die Abteilung, die sich mit Erziehung und Bildung befaßt.
L. Ron Hubbard formuliert die Aufgabe folgendermaßen:
"... das gesamte Gebiet der Erziehung durch die Verbreitung der einzigen funktionierenden Studiertechnologie zu rehabilitieren: Der Studiertechnologie von L. Ron Hubbard".
Das Buch "Kinderdianetik" kann als das formulierte Erziehungsideal für Eltern in der Scientology-Organisation gelten. Es bildet also die Grundlage scientologischer Kindererziehung.
Da der Gründer der Scientology-Organisation davon ausgeht, daß die Definition von "Kind" nichts anderes ist als ein Thetan in kleinem Körper, wird das gesamte Kursprogramm auch für Kinder als zwingend angesehen. Kindliche Phantasie wird im Buch "Kinderdianetik" als psychisch krank definiert. So findet L. Ron Hubbard es "nicht überraschend, daß Kinder Ähnlichkeit mit Psychotikern und Schizophrenen zu haben scheinen."
Um das so als krankhaft eingestufte kindliche Verhalten zu therapieren, wird auch mit Kindern die Technik des "Auditing" durchgeführt. Dabei sollen schmerzhafte und belastende Erfahrungen ausgemerzt werden, um den sogenannten "reaktiven Verstand" zu beseitigen. Hubbard hält das Auditieren von Kindern für möglich, nachdem das Sprechen erlernt wurde. Er empfiehlt aber "schweres Prozessing" ab einem Alter von fünf Jahren. Mit der Rückführung in vorgeburtliche Ereignisse will Hubbard bis zum Alter von zwölf Jahren warten.
Im Rahmen der scientologischen Regeln existiert auch ein "Security Check" für Kinder, der mit der Frage beginnt "Was hat dir jemand verboten zu erzählen?" Dabei wird das Kind mit einem Fragenkatalog von über hundert Fragen konfrontiert. Die Vorgehensweise besitzt Verhörcharakter und zielt darauf ab, beim Kind Belastendes und Negatives hervorzulocken, an dem die Engramm-Löschung ansetzen kann. Kinder scheinen durch Auditing und interne Anweisungen bei Scientology bereits früh dem Versuch ausgesetzt zu sein, bei ihnen alles Belastende, Schwache und Emotionale auszumerzen, sie auf Stärke zu orientieren und an Unempfindsamkeit gegen Schmerz und Schwäche zu gewöhnen um damit empfindungslose "Übermenschen" zu erzeugen.
Einem Aussteigerbericht kann entnommen werden, daß Kinder dazu angehalten werden, sich jeden Tag ein Lernprogramm aufzuerlegen, über das sie eine Art statistisches Tagebuch zu führen haben, mit dem sie systematisch bewertet werden. Diese Praktiken können als frühe Einführung in Formen der Unterwerfung unter Fremdkontrolle verstanden werden.
Halten sich die Eltern an das vorgegebene Erziehungsideal, wachsen die Kinder im geschlossenen ideologischen System der Scientology-Organisation auf. Das Aufwachsen mit der Ideologie soll dadurch gewährleistet werden, daß die Kinder in organisationseigenen Kindergärten und Schulen betreut und unterrichtet werden.
Aus den vorliegenden Berichten und Anweisungen kann gefolgert werden, daß Kinder bereits früh ein den Erwachsenen ähnliches Tagesprogramm im Umfeld von Scientology zu absolvieren haben. Im Vordergrund der Aktivitäten von Eltern sollte immer der Nutzen für die Organisation stehen. Bezeichnend dafür ist eine interne Anweisung für die scientologische Elite-Einheit Sea-Orgization (Sea-Org.), in der Eltern dazu aufgefordert werden, selbst die zugestandene tägliche, einstündige Familienzeit für die "Produktion" aufzugeben. Damit werden nahe, verläßliche und kontinuierliche Eltern-Kind-Beziehungen zumindest erschwert und das Kind erfährt bereits früh - vermittelt über seine Eltern -, daß die Arbeit für Scientology die absolute Priorität besitzt. Dies kann bis zur Vernachlässigung der Kinder durch ihre Eltern führen, da die scientologischen Eltern in der Regel verinnerlicht haben, daß das oberste Ziel die Expansion der Scientology-Organisation ist und sie die Auffassung vertreten, ihre Kinder ebenfalls in diesem Sinne erziehen lassen zu müssen.
Die extremste Form für Kinder innerhalb der Organisation gilt für diejenigen, die in der Sea-Org. aufwachsen. Da die Sea-Org. innerhalb der Scientology-Organisation als Elite-Einheit gilt, wird von vielen scientologischen Eltern angestrebt, ihre Kinder im scientologischen Sinne Karriere machen zu lassen.
Insbesondere ist hier auf die Darstellung einer jugendlichen Aussteigerin hinzuweisen, die in einer Scientologen-Familie aufwuchs und im Alter von elf Jahren nach Deutschland kam. Bis zum Alter von sechzehn, siebzehn Jahren seien ihre Erfahrungen mit Scientology nicht umfassend gewesen. Sie habe lediglich in den Schulferien probeweise einige Wochen für Scientology gearbeitet und sei aufgrund familiärer Probleme, damit sie sich mit ihrer Stiefmutter besser verstehe, in einen Kommunikationskurs geschickt worden und habe danach noch Einstiegskurse für Scientology absolviert, was ihr am Anfang Spaß gemacht habe. Am stärksten scheint insgesamt die familiäre Erziehung und insbesondere die Haltung ihres Vaters gewirkt zu haben. Sie berichtet davon, daß sie in der Schule nie haben sagen dürfen, daß ihr Vater und ihre Stiefmutter Scientologen seien. Sie sei insgesamt isoliert aufgewachsen. Die Haltung ihres Vaters ihr gegenüber sei gewesen, daß sie alles schaffen könne, daß es ihr Problem sei und sie es selbst wissen müsse. Von klein auf, auch wenn es zu Hause Ärger oder Probleme gegeben habe, habe er gesagt, sie sei nicht vier Jahre alt (das Alter, in dem ihre Mutter starb), sondern ein Thetan und müsse es selbst bewältigen. Scientologen, so stellte sie bilanzierend fest, erwarteten sehr viel, zu viel von Kindern.
Im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren habe es verstärkt familiäre Probleme gegeben. Die neue Freundin ihres Vaters habe, nach dessen Trennung von ihrer Stiefmutter, nicht damit gerechnet, daß sie mitkomme und erklärt, sie wolle sie nicht in ihrem Haus haben. Ihr Vater habe gesagt, sie sei ein Thetan und solle sehen, wo sie bleibe. Sie könne ja in der Organisation arbeiten und bekäme dafür ein Dach über dem Kopf. Das habe sie einige Wochen gemacht und nie genau gewußt, wo sie bleiben könne.
In dieser Phase sei man an sie herangetreten und habe gefragt, ob sie nicht Staffmitglied werden wolle. Anwerber von Flag, Kopenhagen und St. Hill hätten auch versucht sie zu rekrutieren. Äußerungen, daß sie sehr qualifiziert, intelligent und kompetent sei, hätten ihr sehr gefallen. Sie habe sich schließlich für St. Hill und die Sea-Org. entschieden und neben ihr hätte auch ihr Vater den Vertrag über "eine Billion Jahre" unterschrieben. Für ihren Vater sei das wichtig gewesen, weil er selbst an demselben Versuch früher gescheitert sei und nun die Hoffnung in seine Tochter gesetzt habe. Durch diesen Vertrag seien ihre Probleme "gelöst" worden, denn sie habe dadurch einen Platz zum Wohnen, Essen und Versorgung gehabt.
Von ihrer Arbeit in St. Hill berichtete die jugendliche Aussteigerin, daß sie von 8 bis 16 Uhr studiert, also die Kurse für die Sea-Org. absolviert hätten. Anschließend seien sie gedrillt worden, und dann habe es körperliche Arbeit gegeben. Man habe keine Pause machen dürfen und den ganzen Tag über habe es nur zwei halbe Stunden Essenspause gegeben. Man habe überall hin "joggen" müssen und keine Ruhe gehabt, weil man die optimale Produktion hätte erreichen müssen. Sie hätten so gut wie nie frei bekommen und auch die versprochene Entlohnung nur selten und nicht in der versprochenen Höhe erhalten. Auch die Schule hätten sie fast nie besucht. Das sei auch bei einer dreizehnjährigen Freundin, die zugleich ihre Vorgesetzte gewesen sei, der Fall gewesen. Sie hätten beim Bau einer Sauna mitgeholfen und dabei häufiger die ganze Nacht durchgearbeitet und mit wenig oder gar keinem Schlaf am nächsten Morgen ihre Kurse direkt weitergeführt. Sie sei sehr erschöpft gewesen, habe Rückenprobleme bekommen, und die Arbeit sei ihr sehr schwer gefallen. Sie habe immer zu wenig Schlaf gehabt. Auch als sie krank gewesen sei, habe sie arbeiten müssen, und auch auf Verletzungen durch die Arbeit sei keine Rücksicht genommen worden. Es sei ihnen keine ausreichende Schutzkleidung ausgehändigt worden, auch bei gefährlichen Arbeiten nicht, z.B. wenn sie mit Säure gearbeitet hätten. Man habe gesagt, ein Thetan könne alles.
Nach sechs Wochen habe sie nach Hause zurück gewollt, auch weil sie sich einsam gefühlt habe und alles so unpersönlich gewesen sei. Man habe sie daraufhin stundenlang all ihre Fehler aufschreiben lassen und sie damit unter Druck gesetzt, daß man gesagt habe, wenn sie jetzt gehe, sei sie ein Versager und eine Schande für ihre Familie. Als sie sich weiter gewehrt habe, sei sie angeschrien und öffentlich vor allen gedemütigt worden. Die Arbeit sei noch schwerer geworden und teilweise habe sie keine Essenspausen mehr bekommen. Als sie einen Fluchtversuch unternommen habe, sei sie von Security-Guards festgehalten und stundenlang in ein Zimmer gesperrt worden. Danach sei sie systematisch bewacht und kontrolliert worden. Besonders problematisch seien Widerstandsversuche dadurch, daß man sich niemandem anvertrauen könne, weil sofort alles weitergeleitet würde. Zudem würden Telefongespräche abgehört und die Post kontrolliert. Sie selbst sei in dieses System auch involviert gewesen, habe andere überwacht, deren Post geöffnet und kontrolliert. Nur dadurch, daß sie sich eine zeitlang strategisch total angepaßt habe, hätten die Kontrollen nachgelassen und ihr sei es gelungen, geschickt und glaubwürdig darzustellen, daß ihr Vater sehr schwer erkrankt sei. Dadurch habe sie drei Wochen Urlaub für Deutschland erhalten. Diese Möglichkeit habe sie genutzt, um Scientology zu verlassen, was ihr nur durch Unterstützung anderer gelungen sei. Ihr Vater habe sie nicht verstanden und gesagt, sie solle in Scientology nicht genauso versagen wie er selbst und wenn sie nicht zur Sea-Org zurückgehen würde, sei sie nicht mehr seine Tochter.
Obwohl sie sehr froh gewesen sei, aus St. Hill zu entkommen, sei sie anschließend in eine Krise geraten, weil sie ihre Freunde verloren habe, sowohl die aus Scientology als auch ihre früheren Freunde. Auch von einem großen Teil ihrer Verwandten sei sie fallen gelassen worden, weil sie ihr vorwerfen würden, sie sei am Leid ihres Vaters und aufgrund dessen gesundheitlicher Probleme auch an dessen drohendem Tod schuld. Insgesamt sei sie eher zurückgezogen und fühle sich für ihre Mitschüler und Gleichaltrigen zu alt, nicht wie achtzehn sondern eher wie vierzig. Positiv sei, daß sie wieder zur Schule gehen könne und langsam, wenn auch eher zu älteren, wieder freundschaftliche Beziehungen aufbauen würde.
Diese Schilderungen gelten für Eltern, die strikt nach den Maßgaben der Scientology-Organisation ihre Kinder erziehen. Es gibt auch Fälle, in denen Eltern sich bei der Erziehung nicht an die Regeln von Hubbard halten.
5.2.4.5 Zusammenfassung
Abschließend bleibt anzumerken, daß diese Skizzen zu unterschiedlichen neuen religiösen und psychokultischen Gruppierungen und Strömungen auf Gefährdungspotentiale hinweisen, die im Rahmen programmatischer Äußerungen nahe liegen und durch Berichte erhärtet werden. Keinesfalls dürfen diese Hinweise aber als die faktisch vorfindbare, generelle Praxis des Umgangs mit Kindern in diesen Gruppen mißverstanden werden. Faktisch ist von einer großen Streubreite des Umgangs mit Kindern und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen auch in diesen neuen religiösen Milieus und Gruppen auszugehen.
5.2.5 Pädagogische Konfliktfelder und Gefährdungspotentiale
Pädagogische Konflikte und daraus resultierende Gefährdungen für Kinder und Jugendliche beziehen sich erstens auf die Binnenrealität der Familien, also die Eltern-Kind-Beziehungen selbst sowie die Wirkungen der Gruppen und Milieus in die sie eingebettet sind, zweitens auf das Verhältnis der Heranwachsenden zu anderen pädagogischen Einrichtungen und zu den außerschulischen Lebensbereichen der Kinder und Jugendlichen und schließlich drittens auf die Konsequenzen der jeweiligen Lebensformen, pädagogischen Überzeugungen und Praktiken für die Individuation und eine reflexive soziale Integration der Heranwachsenden. Damit werden in diesem Abschnitt - notwendigerweise vereinfachend - lediglich die problembehafteten, gefährdenden Potentiale derartiger Bewegungen, Gruppen und Milieus für Kinder und Jugendliche skizziert. Stabilisierende, entwicklungsfördernde und Möglichkeiten eröffnende Aspekte werden hier nicht thematisiert und müssen künftig wissenschaftlich untersucht werden. Daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Einmündung oder die Einbindung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen/Postadoleszenten in derartige Gruppen und Bewegungen nur gefährdende und problemerzeugende Aspekte aufweist.
Diese Gefährdungspotentiale sollen im folgenden - mit Bezug auf die Anhörung der erziehungswissenschaftlichen, psychologischen und medizinischen Experten vor der Enquete-Kommission - stichpunktartig aufgeführt werden.
Hier ist - dies wurde von den Experten deutlich hervorgehoben - zwischen der Situation von Kindern und Jugendlichen, die in neuen religiösen und psychokultischen Gruppierung aufwachsen und der Lage von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu unterscheiden, die sich im Rahmen der Ablösungs- und Verselbständigungsprozesse in derartige Gruppen begeben oder sich, dabei mit anderen Lebensformen experimentierend, in neuen religiösen Milieus aufhalten. Allerdings lassen sich die im folgenden skizzierten Problemlagen keineswegs trennscharf als nur für psychokultische oder neue religiöse Gruppierungen und Familien zutreffend typisieren. Vielmehr finden sich analoge Probleme und Konflikte auch in anderen religiösen und areligiösen Milieus und Lebenslagen in anderen inhaltlichen Ausprägungen.
Für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die in neuen religiösen Bewegungen und Gruppen aufwachsen, sind die folgenden Problemkonstellationen festzustellen:
Es besteht die Gefahr der mangelnden Autonomie und von Abhängigkeitsverhältnissen der Eltern gegenüber den Gruppierungen, wodurch auch der Umgang mit ihren Kindern von Gruppenzwängen bestimmt werden kann.
Vor allem, wenn eine weitgehende materielle Abhängigkeit auf seiten der Eltern besteht bzw. die sozialen Ressourcen und Beziehungsnetze außerhalb neuer religiöser Gruppierungen kaum noch existieren, bleiben Eltern auch bei zunehmend destruktiven Dynamiken an die Gruppen gebunden. Die mangelnde Autonomie und lebenspraktische Eigenständigkeit der Eltern kann dann weitreichende Auswirkungen für die Entwicklung von Autonomie auf seiten ihrer Kinder haben, weil die Eltern dann als Modelle lebenspraktischer Autonomie beeinträchtigt sind bzw. die konkreten Eltern-Kind-Beziehungen unter dem Vorzeichen von Außenkontrolle und Anpassung an vorgegebene Prinzipien stehen können.
Es kann zur "Vernachlässigung" von Kindern aufgrund der expansiven zeitlichen Beanspruchung durch neue psychokultische und religiöse Gruppierungen kommen. Das Pendant in anderen weltlichen Milieus und Lebensformen wäre die "Vernachlässigung" von Kindern durch verabsolutierte Karriereorientierungen oder Strukturzwänge des Arbeitsmarktes, die das Zeitbudget von Eltern für den Umgang mit ihren Kindern minimieren können.
Partnerprobleme und -konflikte können aufgrund des Engagements, der Einmündung in bzw. Zugehörigkeit eines Elternteils zu neuen religiösen und psychokultischen Gruppierungen entstehen. Diese Konflikte verschärfen sich, wenn die Elternteile zu stark divergierenden Glaubensüberzeugungen neigen. Insbesondere eine für die Familie überraschende Konversion eines Elternteils belastet zu Ungunsten der Kinder das familiäre System. Dies kann zu ständigen Auseinandersetzungen in der Familie führen, in die Kinder hineingezogen werden und die für Heranwachsende psychisch sehr belastend sein können. Daraus können für Kinder, die sich zwischen zwei unterschiedlichen religiösen und Lebensentwürfen befinden, Loyalitätsprobleme entstehen, für welchen Elternteil sie sich "entscheiden" und welchen Elternteil sie "verraten" müssen.
Vor allem in der Adoleszenz können im Rahmen von Ablösungsbestrebungen schwere Generationskonflikte auftreten, vor allem dann, wie von seiten erziehungswissenschaftlicher und psychologischer Experten hervorgehoben wurde, wenn es sich um relativ geschlossene und mit Absolutheitsansprüchen auftretende Gruppierungen handelt. Eigenständige, individuelle Entwicklungen von Jugendlichen werden dann nicht nur als Verlust erlebt, sondern zugleich als grundlegende Infragestellung der Eltern und ihrer gesamten Lebensform. Dies wird häufig auch als Weg in Sünde, Verderbnis und Unheil interpretiert, wodurch Kinder zu "Verrätern" an der richtigen Sache werden und sich auf der bekämpften Gegenseite wiederfinden können. Auch dies ist allerdings keineswegs ein trennscharfes Konfiktmerkmal neuer religiöser oder psychokultischer Milieus. Analoge Problematiken ergeben sich auch in gesinnungsgemeinschaftlichen oder stark weltanschaulich-politisch geprägten Milieus oder auch im Wechsel von Statusgruppen bzw. im Wechsel deutlich kontrastierender sozialer Milieus im Rahmen sozialer Mobilität.
Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich im Fall von Trennungen der Eltern, wenn es um Sorgerechtsentscheidungen geht und die Einbindung von Elternteilen in neoreligiöse Milieus berücksichtigt wird. Dabei kann weder die bloße Zugehörigkeit eines Elternteils zu neuen religiösen Gruppen noch die Berufung auf "Religionsfreiheit" als Grundlage problematischer Elternhaltungen gegenüber Kindern eine zureichende Entscheidungsgrundlage bilden. Hier könne - so die Meinung der juristischen Experten in der Anhörung vor der Enquete Kommission - keine generelle Regelung erfolgen, sondern es müsse jeder Einzelfall geprüft werden.
Für Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in den Ablösungs- und Orientierungsprozessen der Adoleszenz und Postadoleszenz auf neue religiöse und psychokultische Bewegungen und Gruppen beziehen, können folgende Problemkonstellationen unterschieden werden:
Die Orientierungs- und Suchbewegungen Jugendlicher können auch in neuen religiösen, spirituellen oder psychokultischen Milieus und Strömungen als Ausdruck alterstypischer Verselbständigungs- und Ablösungsprozesse aus der Familie verstanden werden, als erlebnisorientierte Suchbewegungen und/oder zunehmende Sinnsuche Jugendlicher auch außerhalb gesellschaftlich tradierter Institutionen. Diese Sichtweise wurde von seiten der erziehungswissenschaftlichen Experten betont und dabei darauf verwiesen, daß eine gesellschaftliche Verurteilung unkonventioneller Formen der Sinnsuche und der Wahl von Lebensformen nicht angemessen sei und die Gefahr einer Verfestigung auf seiten der Jugendlichen beinhalte. Eine einseitige "Dramatisierung" der Einmündungsprozesse Jugendlicher oder junger Erwachsener wird mit dieser relativierenden Sichtweise verhindert. Allerdings kann es zu problematischen neuen Einbindungen kommen, die Verselbständigungsprozesse wiederum beeinträchtigen können.
Eltern erleben die Einmündung ihrer "Kinder" in neue religiöse und psychokultische Zusammenhänge häufig als Verlust oder als Entfremdung. Wenn sie versuchen, mittels Zwang und "Gewalt" ihre Kinder zurückzugewinnen, kann dies das Verhältnis zwischen Jugendlichen und Eltern noch weiter belasten und möglicherweise völlig zerrütten.
Der Einbezug von Kindern und Jugendlichen in außerfamiliäre Erfahrungsfelder ist für deren Individuation und eine reflexive soziale Integration von großer Bedeutung. Vor allem den schulischen und außerschulischen Freundschafts- und Gleichaltrigennetzen kommt hier ein zentraler Stellenwert für Lernprozesse und sozialkognitive Entwicklungen Heranwachsender zu. Aber auch die Gewährleistung umfassender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten wird für die Zukunftsgestaltung von Heranwachsenden immer entscheidender. Zentrale Beeinträchtigungen in beiden Lebensbereichen können somit gravierende Probleme und langfristig wirkende Restriktionen für die Identitätsentwicklung Jugendlicher mit sich bringen.
Vor diesem Hintergrund ist auf die folgenden Problemkonstellationen hinzuweisen:
Die erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Experten wiesen mit Recht vor der Enquete-Kommission darauf hin, daß Kinder und vor allem auch Jugendliche mit ihren starken Verselbständigungswünschen und auch Einbindungsbestrebungen in Gleichaltrigengruppen in eine Außenseitersituation gedrängt werden können. Dies kann zum einen damit zusammenhängen, daß Kindern und Jugendlichen die Partizipation an Unternehmungen der Altersgleichen von seiten der Eltern verboten wird. Zum anderen kann dies aber auch daraus resultieren, daß andere Eltern ihre Kinder davon abhalten, Freundschaften und zu intensive Beziehungen mit Heranwachsenden aus Gruppen und Bewegungen einzugehen, die im öffentlichen und medialen Diskurs als "gefährlich" gelten. Beide Tendenzen können zusammenwirken, sich dadurch verstärken und die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen besonders schmerzhaft gestalten. Nicht weniger problematisch ist es, wenn Kinder und Jugendliche ihre bzw. die Zugehörigkeit ihrer Eltern zu einer neuen religiösen Bewegung oder Gruppe verheimlichen müssen, damit zu einem permanenten Selbst-, Informations- und Darstellungsmanagment gezwungen sind, um die Aufdeckung eines drohenden Stigmas zu verhindern. Dies kann dazu führen, daß Kinder und Jugendliche über zentrale belastende und konflikthafte Aspekte ihres Lebens weder mit Gleichaltrigen noch mit anderen Erwachsenen, z.B. Lehrern, reden können und trotz vordergründiger Einbindung letztlich mit ihren zentralen Problemen allein und isoliert bleiben. Dies Problematik gilt keineswegs nur für Heranwachsende aus neuen religiösen Gruppen und Bewegungen, sondern findet sich auch bei Kindern und Jugendlichen, die andere soziale Stigmatisierungen zu kontrollieren versuchen, z.B. drastischen sozialen Abstieg der Eltern, Alkohol- und Suchtprobleme bzw. Haftstrafen eines Elternteils etc. Auch mit dieser Relativierung kann davon ausgegangen werden, daß das Problem eines Ausschlusses Heranwachsender aus dem jugendkulturellen Leben sowie aus reichhaltigen und unbelasteten Erfahrungen mit Gleichaltrigen, verbunden mit der Konsequenz sozialer Isolation und Vereinsamung, in neuen religiösen und psychokultischen Gruppen und Bewegungen deutlich ausgeprägt ist.
Damit zusammenhängend kann es zu einer Ablehnung, gar "Verteufelung" der Jugendkultur, der Jugendmode und der Jugendstile kommen. Anfällig dafür sind u.a. insbesondere christlich-traditionale, charismatische oder auch christlich-fundamentalistische Gruppierungen etwa unter der Perspektive, daß die Jugendkultur eine Einfallspforte des Bösen und Dämonischen darstelle. Daraus kann ein Ausschluß Heranwachsender aus jugendlichen Freundschafts- und Peernetzen resultieren und es zu erheblichen Behinderungen für die Teilhabe an jugendlichen Erfahrungsräumen und Kommunikationsmöglichkeiten über jugendkulturelle Inhalte kommen, die im Rahmen einer Expansion, Generalisierung und Pluralisierung der Jugendkultur für Jugendliche zu einem zentralen Lern- und Wissensfeld und für jugendliche Selbstentwürfe immer bedeutsamer geworden ist.
Wenn Heranwachsende sich zwangsweise auf Gleichaltrige derselben Glaubensüberzeugungen in häufig kleinen Beziehungsnetzen orientieren müssen, dann kann die starke Einschränkung der freien Wahl von Freundschaften, als eines zentralen Entwicklungsmotors in Kindheit und Adoleszenz, eine erhebliche Beeinträchtigung für die psychosoziale Entwicklung bedeuten.
Findet das Leben von Kindern und Jugendlichen in stark von der Umwelt abgeschlossenen sozialisatorischen Sondermilieus statt, kann das Problem bestehen, daß die Erfahrungen, Deutungsmuster und Weltsichten der Heranwachsenden nur schwer an die Erfordernisse weit modernisierter Gesellschaften anschließbar sind. Dies kann zu tiefreichenden Fremdheits- und Angstgefühlen gegenüber weit modernisierten Weltbezügen führen. Daraus kann wiederum resultieren, daß derart sozialisierte Heranwachsende auch in späteren Lebensabschnitten auf "Rückzugsmilieus" angewiesen bleiben. Damit geht auch die Vorenthaltung der Erfahrung pluraler, vielfältiger Weltbezüge und Deutungsmöglichkeiten einher, eine Erfahrung, die für die Bewältigung einer sich pluralisierenden Gesellschaft immer bedeutsamer wird.
Daneben können Konflikte zwischen schulischen Anforderungen und Erwartungen sowie der Lebensweise und den Glaubensprinzipien der Familie auftreten (z.B. Teilnahme an Schulfesten und -fahrten, Lehrinhalte und Glaubensvorstellungen der Familie etc.), aus denen gravierende Schulkonflikte für Heranwachsende resultieren können. Für die konkrete Ausprägung dieser Konfliktpotentiale ist aber sicherlich die mehr oder weniger rigoristische Haltung der jeweiligen Familie entscheidend.
Teilweise kommt es auch zu Erschwernissen für die Einmündung in weiterführende Schullaufbahnen und entsprechende Ausbildungs- und Berufskarrieren bis hin zur Vorenthaltung des Schulbesuchs und von Schulabschlüssen. Damit wird die Realisierung einer zentralen Voraussetzung für eigenverantwortliche und selbständige erwachsene Lebensführung behindert oder verunmöglicht. Dadurch werden die Möglichkeiten erheblich erschwert, in späteren biographischen Phasen sich von der jeweiligen Gruppe zu distanzieren oder ganz auszusteigen.
5.2.5.3 Problem- und Konfliktfelder für soziale Integration und Indivi-
duierung von Kindern und Jugendlichen
Die beiden vorher skizzierten Problem- und Konfliktlinien können wiederum weitreichende Konsequenzen für die Individuation und eine reflektierte, soziale Integration Heranwachsender beinhalten. Hier sind etwa die folgenden Problemkonstellationen zu beachten:
Es kann - aufgrund von Ernährungsvorschriften, der umfassenden Ablehnung medizinischer Behandlungen zugunsten alternativer oder Wunderheilverfahren oder der Ablehnung spezifischer medizinischer Eingriffe im Rahmen von Glaubensüberzeugungen - zu Ernährungs- und Gesundheitsproblemen allgemein kommen. In extremen Fällen kann daraus auch die Gefährdung des Lebens Heranwachsender resultieren, etwa in Form der Unterlassung medizinischer Behandlungen bei lebensbedrohlicher Erkrankung von Kindern oder etwa des Verbotes von Bluttransfusionen wie z.B. bei den Zeugen Jehovas.
Neben diesen Gefährdungen der körperlichen Integrität Heranwachsender sind Problemkonstellationen für die psychosoziale Integrität festzuhalten. Eltern können aufgrund ihrer Einbindung und Unterwerfung unter Gruppenzwänge häufig als identifikatorische Brücke zur Entwicklung einer eigenverantworteten, selbständigen Lebensführung entfallen. Daneben kann die Balance von Bindung - das Ergebnis verläßlich-emotionaler Eltern-Kind-Beziehungen, als Grundlage für relativ angstfreie Verselbständigungsprozesse - und der Ablösung von Heranwachsenden erschwert werden. Dies kann insbesondere dann erfolgen, wenn Eltern aufgrund von Vereinnahmungen durch neue religiöse und psychokultische Gruppen einerseits zu wenig Zeit für ihre Kinder haben bzw. ihrem Kind distanziert begegnen, andererseits aber von ihm Gefolgschaft und "Treue" erwarten.
Die Verselbständigung in der Adoleszenz kann auf seiten der Jugendlichen