3 Makro- und mikrogesellschaftliche Dimensionen des Phänomens

3.1 Gesellschaftliche Ursachen und Bedingungen für das Entstehen
und die Weiterentwicklung neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen

3.1.1 Vorbemerkungen

Die Arbeit der Enquete-Kommission hat deutlich werden lassen, daß es sich bei dem Phänomenkreis "sogenannter Sekten und Psychogruppen" um ein sehr vielschichtiges Thema handelt. Eine einfache Zuschreibung von Problemen zu ihren vermeintlichen Verursachern, den "Sekten”, eröffnet mehr Fragen, als sie Antworten gibt. Es heißt nicht, ein mögliches Ausnutzen von Handlungsspielräumen durch Gruppen oder Einzelne über das erlaubte Maß hinaus zu leugnen, wenn man feststellt, daß die Problematik um neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen erhebliche gesellschaftliche Ursachen und Rahmenbedingungen aufweist. Erst ihr Verstehen ermöglicht einen angemessenen und problemlösungsorientierten Zugang.

Die Öffentlichkeit beschäftigt sich in großem Ausmaß mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen, z. B. in einer Vielzahl von Artikeln in Tages- und Wochenzeitungen, von Fernseh- und Rundfunksendungen oder Buchveröffentlichungen. In der öffentlichen Diskussion wurde das quantitative Ausmaß der betreffenden Gruppen gelegentlich überschätzt. Im Zwischenbericht hat die Enquete-Kommission weitgehend übereinstimmend mit früheren Erhebungen deutlich gemacht, daß die Verbreitung neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen nicht so groß ist, daß sie die öffentliche Wirkung des Themas allein erklären könnte. Etwa 0,5 % der Befragten gaben an, Mitglied oder Anhänger bzw. Anhängerin einer neuen religiösen oder weltanschaulichen Bewegung zu sein. Weitere 0,7 % bekundeten eine gewisse Nähe zu einer solchen Bewegung. Trotz dieser Verbreitung werden neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der Bevölkerung als sehr bedrohlich wahrgenommen. Allerdings sind Quantität und Qualität eines Problems nicht identisch.

Im folgenden werden einige der in diesem Zusammenhang wichtigsten gesellschaftlichen Ursachen und Bedingungen für das Entstehen und Sichweiterentwickeln neuer religiöser und weltanschaulicher Gruppen und Lebensbewältigungshilfeangebote sowie ihre gesellschaftliche Wahrnehmung skizziert.

3.1.2 Von der traditionellen Gemeinschaft zur Wahlgemeinschaft

Moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften zeichnen sich dadurch aus, daß sie traditionell gewachsene Strukturen lockern, ggf. auflösen und durch flexible Strukturen ersetzen. Die modernen Gesellschaften bauen ihre Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit gerade auf diesem Potential an Flexibilität, Wandlungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit auf. In verschiedenen Feldern, z. B. bei Vereinen, Gewerkschaften, Parteien oder im Bereich Ehe und Familie, wird diese Entwicklung auch als Verlust wahrgenommen, allerdings besonders deutlich im Feld der Religionen. Man unterstellt gemeinhin, Religion entfalte sich selbstverständlich und weitestgehend als Gemeindereligion, also als im von allen geteilten direkten Lebensumfeld der Mitglieder verankert.

In der europäischen Vergangenheit, aber auch in anderen Kulturen, war dies weitgehend der Fall. Religion galt u. a., so die entsprechenden Theorien, als Instanz umfassender transzendenter wie immanenter Sinnstiftung für Identitätsbildung, Lebensführungskonzepte, Kosmisierung von Wirklichkeit, Kontingenzbewältigung, Transzendenzbezug, für den Gesamtbereich von Staat, Gesellschaft und Kultur wie für Gemeinde (politisch wie kirchlich), u. a. Lebenswelt. Diese freilich nie ganz homogene Welt befindet sich seit dem 17./18. Jahrhundert in einem Prozeß tiefgreifender Veränderung, Auflösung und Neustrukturierung, noch einmal beschleunigt in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg, wobei dieser Prozeß oft als Säkularisierung verstanden wird. Es handelt sich um eine Pluralisierung religiöser Inhalte und Formen, Angebote und Optionen, wodurch eine religiöse Vielfalt und ein religiöser Markt entstehen. Ebenfalls handelt es sich um eine Differenzierung in religiöse und nichtreligiöse Lebenshilfe- oder Sinnangebote. Dies ist nicht schon als Gegensatz zur Gemeindereligiosität oder zu gemeinschaftsförmiger Religion zu sehen, vielmehr bildet sich eine marktförmige Situation, mit einer Vielzahl von Anbietern. Zu den traditionell vorhandenen Religionen kommen neue hinzu, sehr unterschiedlich, hinsichtlich Herkunft und Tradition, sehr unterschiedlich ebenfalls, was die Organisationsform betrifft.

Spätestens aber seit Peter L. Bergers Buch "Der Zwang zur Häresie” wird deutlich, daß auch andere Formen der Organisation von Religion möglich und verbreitet sind, wie Anbieter- oder Dienstleistungsreligionen. Denn auch Religion bzw. die Religionen als Anbieter von Sinnstiftung und Lebensführungskonzepten, dies sind sie immer auch gewesen, müssen sich in diesem gesellschaftlichen Kontext bewegen und hier ihre Anknüpfungspunkte suchen. Allerdings hat es neben der Gemeindereligion, in der alle Menschen eines Ortes oder Gebietes Mitglied sind, immer alternative Sondergemeinschaften z.B. als Geheimkulte, Mysterien, Orden usw. gegeben.

Wir haben es, was die Organisationsformen betrifft, mit zwei extremen Ausprägungen neuer Religiosität zu tun, "neben den Kirchen”, d. h. den bei uns traditionellen Religionen:

Zum einen religiöse Angebote, die sich wieder in Richtung gemeinschaftsförmiger oder gemeindeförmiger Religiosität entwickeln. Wo diese zu sehr geschlossenen Formen tendieren (evtl. verbunden wird mit der oben genannten "Isolation” und "Insulation”), kann eine hohe Konfliktträchtigkeit entstehen. Dies ist zumal dann der Fall, wenn diese Gruppen auf vormoderne Muster zurückgreifen, d. h. mit Hilfe dessen, was man als "interpretativen Mehrwert” von Religion bezeichnen könnte (also die oben genannten Funktionen und Leistungen), versuchen, Trennungen und Segmentierungen in der heutigen Gesellschaft und Kultur in Richtung traditionaler Einheitskonzepte wieder aufzuheben, die gesamte Lebenswirklichkeit unmittelbar religiös zu normieren, persönliche Freiheitsrechte erheblich einzuschränken.

Daneben gibt es marktförmige Religion und Sinnstiftung in einem noch präziseren Sinn, etwa in zahlreichen Therapie- und Lebensbewältigungsangeboten. Diese Formen verzichten darauf, sich gemeinschaftsförmig oder gemeindeförmig zu organisieren und nimmt eine weniger verbindliche, flexible Gestalt an. Hier kann der "interpretative Mehrwert” von Religion und Sinnstiftung dazu dienen, die Lebenshilfe- und Therapieangebote, vor allem deren fachliche Grenzen oder Mängel religiös-weltanschaulich zu überlagern (wie es analog aus den weltanschaulichen Komponenten der Tiefenpsychologien bekannt ist).

Bei solchen Angeboten wird entweder der vermeintlichen Traditionslosigkeit der Moderne kritisch begegnet und dagegen eine stärker traditionsfundierte Lebens- und Glaubensweise gesetzt. Oder man orientiert sich sehr speziell auf die Anpassung an die Leistungsgesellschaft, die Menschen "fit” machen will. Dies kann erstrebt werden durch Rückgreifen auf eigene religiöse Traditionen oder durch Import anderer religiös-kultureller Muster. Nicht selten finden sich Mischformen etwa aus europäisch-christlichen, asiatischen und/oder (psycho-) therapeutischen Versatzstücken.

Es ist nicht nur in großen Teilen der Bevölkerung eine Auflösung von Traditionen zu konstatieren, sondern auch eine Vervielfältigung von Möglichkeiten, die nebeneinander bestehen und miteinander in Konkurrenz um Anhängerinnen und Anhänger treten. Das Grundprinzip ist jedoch nicht die Verdrängung einer Tradition durch eine andere, sondern ihr Nebeneinander, das in Form konjunkturellen Hochs und Tiefs beschrieben werden kann. Man muß hier freilich den tiefreichenden Bedeutungswandel von Traditionen beachten, von für den einzelnen mehr oder minder verbindlichen und verpflichtenden Vorgaben zu Gegebenheiten von Wahl und Option. Was an dieser Entwicklung als Verlust empfunden wird, ist nicht der Verlust der Tradition selbst, aber der Verlust an sozialer Transzendenz und Erwartungssicherheit, also an verbindlicher Reichweite der jeweiligen Traditionen und der durch sie geforderten Normen für das alltägliche, gesellschaftliche Leben und Handeln. Dies wird in der Soziologie mit dem Begriff der Individualisierung bezeichnet.

Allerdings beruhen gerade die Ausdifferenzierungsprozesse wiederum auf der weltweit zunehmenden Geltung einiger sie tragender Normen, wie zum Beispiel die Menschenrechte in einer individualisierten Interpretation, Glücksstreben als Sinnquelle in einer ebenfalls individualisierten Form (s. Kap. 3.1.8) usw. Die Individualisierung findet also unter den Bedingungen einer Globalisierung statt, wobei nicht nur normative Vorgaben unter einen starken Vereinheitlichungsdruck geraten, sondern auch wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen der alltäglichen Lebenswelt. Diese sowohl weltweit als auch innerhalb unserer Gesellschaft fortschreitende Standardisierung z. B. beruflicher Orientierungen, macht die Nicht-Anpassung an die sich wandelnden Vorgaben oder berufliche und private Fehlentscheidungen von daher individuell sehr negativ sanktionierbar. Deshalb bedeutet Individualisierung auf der einen Seite zwar eine größere Wahlfreiheit für die einzelne Person. Auf der anderen Seite unterliegen gerade moderne Biographien in hohem Maß den Zwängen von immer einheitlicher werdenden Wirtschaftsformen und Berufsmöglichkeiten, die wiederum von politischen Vorgaben abhängen. Ein Teil der Konflikte mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen hat unter anderem damit zu tun, daß einige der betreffenden Gruppen global geltende Lebensorientierungen verneinen bzw. zurücknehmen wollen und ihre Anhängerschaft mehr oder weniger krass dazu veranlassen, die zwingenden Rahmenbedingungen der Wirtschaft und der Arbeitswelt zu mißachten. Ein erheblicher Teil der Hinwendung zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen hat umgekehrt damit zu tun, daß Menschen an den Bedingungen eben dieser Arbeits- und Lebenswelt scheitern oder dies zu befürchten haben, oder daß sie sich immerhin subjektiv dem Anpassungs- und Leistungsdruck nicht gewachsen fühlen.

Individualisierungsprozesse werden auch soziodemographisch deutlich. Es liegen mittlerweile tragfähige Daten z. B. zur Urbanisierung, zur Entwicklung der Haushaltsgrößen, der Familie, zu Formen und Intensitäten persönlicher Kontakte, zu Wohn- und Partizipationsformen vor, um nur einige zu nennen. In diesen Daten schält sich seit Jahren mit steigender Tendenz ein Trend heraus: Die engen sozialen Beziehungen in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde verlieren an Reichweite und Bindungskraft. Der Stellenwert der spezialisierten Lebensbereiche, allen voran die Arbeitswelt, aber auch die Familie, die Freizeit und die Freunde als soziale Integrationsfaktoren des einzelnen Individuums nehmen zu. Zugleich verringert sich der subjektiv empfundene Stellenwert eher kollektivorientierter Lebensbereiche. Politik/Parteien und Religion/Kirche werden regelmäßig nur von etwa je 20 % der Befragten als wichtige Lebensbereiche angesehen. Beruf, Familie oder Freizeit dagegen von zwischen 60 % und 80 %. Dies ist mit kleinen Variationen das Ergebnis, welches die Allgemeine Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften (ALLBUS) seit 1980 regelmäßig erbringt.

Die statistischen Befunde zeigen gesellschaftlichen Wandel in zwei Richtungen an. Einerseits deuten sie auf eine geringere kollektive Prägekraft der Gesellschaft in bezug auf allgemeine Denk- und Verhaltensmuster hin, andererseits machen sie deutlich, daß die Individuen auf soziale Orientierungsbereiche von gleichsam geringerer sozialer Reichweite, wie die eigene Familie, den Kreis der Berufskolleginnen und -kollegen oder die Bekanntschaften im Freizeitbereich angewiesen sind und durch sie gestützt werden.

3.1.3 Die moderne Biographie

Die Veränderungen in den traditionellen Sozialbeziehungen bewirken, wie gezeigt, einen zum Teil tiefgreifenden Verlust an sozialer Kontinuität und Transzendenz. Die eigene Biographie mit den Besonderheiten der eigenen Person zu verbinden und sich so als gesellschaftliches Wesen zu beweisen, wird von einer gemeinschaftlich getragenen zu einer weitgehend individuell zu erbringenden Leistung. Das "postmoderne Lebenskonzept” ermöglicht so eine Vielzahl von Handlungsorientierungen, die gesellschaftlich gleichermaßen legitimierbar sind, wenn sie nur unter einer subjektiv empfundenen Ordnung oder einer individuellen Plausibilität stehen und den ökonomischen Rahmenbedingungen der Gesellschaft entsprechen.

Die Bildung und Erhaltung personaler Identität wird unter diesen Vorzeichen beträchtlich erschwert. Sie wird zum lebenslangen Projekt, muß dauernd neu konstituiert und gesichert werden. Sinnprobleme stellen sich dem Individuum in viel nachdrücklicherer Weise, als dies in einer engeren Gemeinschaft der Fall wäre. Dies bringt Niklas Luhmann auf den Punkt: "Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Das beginnt mit der Geburt”.

Besser kann man die Anforderungen an die Konstitution der eigenen Person und ihrer Biographie in der Moderne nicht beschreiben. Vor dem Hintergrund vielfältiger gesellschaftlicher Möglichkeiten ist es am Einzelnen, sowohl den Rahmenbedingungen erfolgreicher Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu entsprechen, als auch diesem durchaus zufällig anmutenden Ganzen einen Sinn und Zusammenhang zu geben.

Den verbesserten Lebenschancen stehen also größere Risiken gegenüber, in einer Vielzahl von Angeboten und Optionen eine Entscheidung zu treffen, die man später als falsch einschätzt. Ein großer Teil der Probleme und Konfliktlagen der neueren Diskussion um neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen hat hier seine Wurzel, in der Wahl von Lebensbewältigungshilfeangeboten, in der Bewältigung des eigenen Lebenswegs in einer alternativ religiösen Gruppe (während und unter Umständen auch nach der Mitgliedschaft) und in der gesellschaftlichen Thematisierung dieser Angebote.

3.1.4 Gesellschaftliche Säkularität und religiöse Indifferenz

Über 50 % von Befragten in den alten und fast 80 % in den neuen Bundesländern stufen sich als nicht religiös ein. Auch für die Kirchen gilt das Wort von der "neuen Unübersichtlichkeit” (Jürgen Habermas). Einerseits sind seit den fünfziger Jahren die Zahlen der Kirchenmitglieder deutlich zurückgegangen, andererseits gibt es immer noch eine regelmäßige Teilnahme an den Gottesdiensten von im Durchschnitt bei 17 %, mit erheblichen Abweichungen nach oben wie nach unten und mit deutlich weiterreichenden Zugehörigkeiten. Auch in den Kirchen selbst zeigt sich das Phänomen der Verschiebung von Tradition und Option, bis in deren Kerngemeinden.

Hieran wird der Rückgang der Bedeutung religiöser Lebensaspekte und des gemeinschaftlichen religiösen Handelns in der deutschen Bevölkerung sichtbar. Dies ist keinesfalls gleichzusetzen mit dem Verlust des Religiösen oder durchgreifender Verweltlichung des Lebens als Ganzem. So gibt es auf der Ebene der Werte nach wie vor eine starke Betonung christlicher Werte. Auch der Glaube an im weitesten Sinne religiöse Muster ist durchaus verbreitet. Man orientiert sich in seinem Alltag an Horoskopen, glaubt an Wunderheiler, Hexen oder Glücksbringer, an Reinkarnation, an okkulte Phänomene. Religiöse Bedürfnisse und religiöse Lebensbewältigungsmuster sind in der Bevölkerung nach wie vor weit verbreitet.

Trotzdem besteht mit Bezug auf gesellschaftliche Zusammenhänge weitgehende religiöse Indifferenz. Religion erscheint im Rahmen solcher gesellschaftlicher Handlungskontexte als Sinnstiftungsinstanz, als Normbegründung und Lebensbewältigungshilfe solange als nicht aktuell erforderlich, wie eine Person in ihrem Alltag eine hinreichende Einbindung hat und sich ihr Alltag intakt darstellt. In der Familie, bei der Arbeit und im Beruf, bei der Freizeitgestaltung mit Freunden und Bekannten ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, den Alltag der oder des Einzelnen hinreichend auszufüllen. Für religiöse Praxis findet sich oftmals weder Raum noch aktueller Bedarf. In vielen gesellschaftlichen Bereichen gibt es im Gegenteil sogar massiven sozialen Druck in Richtung religiöser Indifferenz. Im Berufsleben zum Beispiel könnte eine zu starke Orientierung an religiösen Normen der Karriere durchaus im Wege stehen. Eine Untersuchung bei Führungskräften in der deutschen Wirtschaft machte eine sehr ausgeprägte Indifferenzhaltung bezogen auf die Berufstätigkeit deutlich. Franz-Xaver Kaufmann fand heraus: "Religiöse Maßstäbe werden nicht generell abgelehnt, aber es wird ihnen überwiegend kein hoher Stellenwert beigemessen". Religiöse Bezüge werden also aus vielen gesellschaftlichen Bereichen als irrelevant ausgeschlossen. Das Religiöse bildet ein eigenes spezialisiertes gesellschaftliches Feld, in dem es sich entfalten kann.

Diese Konstellation ist durchaus zwiespältig. Denn es wird deutlich, daß die einzelnen Menschen in der Regel religiös relativ ungeübt, aber durchaus ansprechbar sind. Sinnfragen können sich in den Vordergrund des Alltags drängen, wenn zum Beispiel persönliche Umbrüche oder Krisen auftreten. Man verliert den Arbeitsplatz, wird krank oder ein nahestehender Mensch erkrankt schwer oder stirbt. Die Erwartungen an die eigene Karriere oder Ehe bzw. Partnerschaft werden enttäuscht und lassen die Frage nach dem Sinn aufkommen. In dieser Sichtweise ist also nicht der einzelne Mensch religiös indifferent, sondern die soziale Struktur, in der er oder sie leben und handeln.

Da diese Konstellation der integrierten säkularen Lebenswelt sich aus der individuellen Perspektive als dauerhaft bedroht und unsicher darstellt, kann Indifferenz in eine Form der Entschiedenheit gegen eine oder auch für eine religiöse Lebensführung umschlagen. Aus einer kultursoziologischen Perspektive wird dies durch die ergänzende Analyse des derzeitigen Religionsverhältnisses der Bürgerinnen und Bürger einer säkularen Gesellschaft verdeutlicht, nämlich dergestalt, daß es eine eigene säkulare Religionsgeschichte der Moderne gibt. Das würde bedeuten, daß Grundideen der modernen okzidentalen Neuzeit wie die Idee wissenschaftlichen Fortschritts, die Idee der Neuwerdung des Menschen durch Pädagogik und Psychologie usw. selbst die Funktion von Religion übernehmen können, teilweise übernommen haben und in Konkurrenz mit den Religionen um kulturelle Geltung stehen. Im Einflußbereich moderner Ideologien wie Kommunismus und Nationalsozialismus ist dieser Sachverhalt unbestritten, strittig ist jedoch, inwieweit auch die individualisierte Lebensführung der heutigen Mehrheit von der Sinngebung durch "säkularreligiöse” Ideen geprägt wird. Gegebenenfalls wäre die Indifferenz der Mehrheit gegenüber traditionellen vormodernen Religionsbeständen auch als Bindung an solche säkularreligiöse Sinngebungen und Daseinsinterpretationen verstehbar.

Dann wäre das Auftreten einer marktförmigen Religiosität, die fast immer gleichzeitig Lebenshilfe sein will, zusätzlich als Versuch zu verstehen, die Versprechungen säkularer Sinngebung nach dem Plausibilitätsverlust der herkömmlichen Träger ihrer Verheißung, nämlich Politik und Wissenschaft, auf andere Weise doch noch einzulösen. Das Hervortreten von sogenannten Psychokulten und sogenannten Politsekten in den sechziger und siebziger Jahren, ebenso die New-Age- und die Esoterikbewegung der achtziger Jahre, legen jedenfalls eine solche Interpretation nahe.

Verschiedene neuere Studien, einige auch durch die Enquete-Kommission angeregt, haben gezeigt, daß der Ausgangspunkt oder die Grundproblematik, die zu einer Hinwendung zu neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen führen kann, in den meisten Fällen in persönlichen Problemen liegt, die man heute eher als weltliche Probleme bezeichnen kann. Es finden sich als solche Motive die Ablösung vom Elternhaus, Konflikte mit Eltern oder Partner, berufliche Probleme, unerfüllte Wünsche. Explizit religiöse Motive treten meist erst später in den Vordergrund, wenn ein bestimmtes Lebenshilfeangebot einer Gruppe von dieser in einen weiteren Sinnkontext gestellt wird. Die Bereitschaft, sich auf ein "ganz anderes Leben" einzulassen, dessen Qualität, Begleit- und Folgeerscheinungen man nicht durchschaut, ist dann sehr hoch. Dagegen ist die Fähigkeit, mit religiösen Gefühlen und Eindrücken umzugehen, heute vermutlich eher schwach ausgebildet.

3.1.5 Angebot und Nachfrage nach Sinn, Lebenshilfe, Persönlichkeitsentwicklung

Um diese spezifischen Sinnbedürfnisse und Lebenshilfegesuche ist eine Form der Organisation hervorgetreten, auf die verschiedene säkulare Gesellschaften noch nicht genügend eingestellt sind, da sie weiterhin von einer Einbettung von Sinnstiftung und Lebenshilfe in relativ homogene Formen der Religiosität ausgehen bzw. Religion und Sinnstiftung mit Gemeindereligion allein gleichsetzen. Solche eher marktförmigen Ansätze sind nicht pauschal mit einzelnen religiösen Gruppen, also auch nicht mit einzelnen neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen zu identifizieren, sondern sind mit den meisten religiösen Lehren verbindbar. Es ist ein Modus der Verbreitung von religiösen Ideen und von Lebenshilfe im allgemeinen, der angesichts moderner gesellschaftlicher Strukturen in stärkerem Maße etablierbar ist. So wird in den letzten Jahren immer öfter auch die Forderung an die Kirchen gerichtet, sich nachfrageorientierter anzubieten.

Für den Umgang mit den marktförmig organisierten Aspekten und Angeboten fehlen aber sowohl ein Verbraucherbewußtsein bei den Nachfragenden, als auch Verbraucherschutzkriterien, wie z. B. Transparenz der Angebote und Leistungen, der Inhalte und Kosten. Das Bewußtsein für die Notwendigkeit von Verbraucherschutz wächst nur langsam. Es ist leider bislang weder auf der Konsumentenseite noch bei den gesellschaftlichen Institutionen, z. B. im Recht und in der Lebensberatung, hinreichend ausgeprägt. Die zunehmende individualisierte Nachfrage nach Sinngebung und Lebenshilfe macht die Bürgerinnen und Bürger aber besonders verletztlich, zumal in einer Gesellschaft, in der eine Situation der relativen religiösen Übersichtlichkeit vorherrscht bzw. vorgeherrscht hat. Ein Teil der Konflikte um neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen hat seine Ursache in der mangelnden Vertrautheit mit einem pluralen Religionsangebot und im Mißverstehen marktförmiger religiöser Angebote.

Die Bedrohtheit der modernen Lebensführung manifestiert sich für bestimmte Personenkreise sehr viel konkreter als für andere, wodurch auch die Bereitschaft zur Übernahme kompensatorischer radikaler, religiöser oder ideologischer Lebensorientierungen in bestimmten Milieus und für bestimmte Menschen gesteigert wird. Zum Beispiel gibt es unter arbeitslosen Jugendlichen geringeren Bildungsgrades, die derzeit wenig Aussicht auf eine lukrative Teilhabe am Erwerbsleben besitzen, ein hohes soziales Aggressionspotential, das sich satanistische Gruppen in verschiedenster Art zunutze machen können (siehe auch Kapitel 3.4 ). Riesebrodt zeigte am Beispiel des protestantischen Fundamentalismus in den USA, daß eine Neigung zum religiösen Fundamentalismus in einer Bevölkerungsschicht verbunden sein kann mit deren Protest gegen einen gesellschaftlichen Privilegienverlust, in diesem Fall mit Verlusten an sozialem Status und wirtschaftlicher Sicherheit im weißen Kleinbürgertum. Es ist anzunehmen, daß von solchen Zusammenhängen mindestens diejenigen "klassischen" Sekten profitieren, die inhaltlich und von der Lebenswelt her dem protestantischen Fundamentalismus zuzurechnen sind; ähnliche Zusammenhänge in der katholischen Tradition bestehen wahrscheinlich ebenso. Daß politisch marginalisierte Bevölkerungsgruppen dazu neigen, sich Selbstwert und Handlungszuversicht kompensatorisch auf dem Feld der Religion zu sichern, ist vielfach belegt. Erinnert werden kann an den Aufstieg spiritistischer Gemeinschaften und afro-brasilianischer Religionen in Brasilien sowie an den Erfolg der Pfingstbewegung unter karibischen Einwanderern in England usw. Von daher ist nicht nur ein allgemeiner gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen Individualisierung und "Zwang zur Häresie" auf der einen Seite und einem möglichen Umschlag in rigide Deutungssysteme mit totalitären Ansprüchen an das Individuum auf der anderen Seite auszugehen. Vielmehr ist anzunehmen, daß konkrete biographische Prozesse auch aufgrund konkreter Probleme wie Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe, Arbeitslosigkeit, Zerbrechen bisheriger sozialer Sicherungssysteme usw. in verstärkender Weise in eine Konversion einmünden können. Dieser spezifische, parallel bestehende Zusammenhang läßt sich nicht unbedingt im Rahmen der hier zugrunde gelegten übergreifenden Gesellschaftstheorien (Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Kommunikationsgesellschaft) formulieren, eine eigene theoretische Ableitung würde jedoch hier zu weit führen. Aus historischer und praktischer Erfahrungen sind solche Wandlungsprozesse hinreichend bekannt. Dies ist umso bedeutsamer, als politische Maßnahmen zur Prävention religiöser und weltanschaulicher Radikalisierung eben hier ansetzen müßten.

Die Ausbreitung marktförmiger Sinn- und Lebenshilfeangebote geht allerdings nicht ausschließlich auf die Nachfrage nach in dieser Form angebotenen Sinnorientierungen und Lebenshilfen zurück. Vielmehr eröffnen die vorstehend skizzierten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse auch den Anbietern bzw. Betreibern erst die Möglichkeiten, sich Vertriebswege zu erschließen und Akzeptanz bei den "Kunden” zu finden. Daher läßt sich nicht ohne weiteres entscheiden, wieviel des Bedarfs nach marktförmigen Sinn- und Lebenshilfeangeboten auch dadurch hervorgerufen wird, daß Exponenten bestimmter Religions- und Lebenshilfeformen sich gewissermaßen professionalisieren, sich dadurch eine wirtschaftliche Existenzbasis sichern und in ihrem Milieu soziale Statusgewinne erzielen können; eine Entwicklung, die in anderen Ländern mit einer anderen religiösen Tradition, z. B. in den USA, gar nicht weiter auffällt.

Es ist nahezu trivial, darauf hinzuweisen, daß zum Beispiel die in den letzten 20 Jahren neben den etablierten Kirchen und Freikirchen um einzelne Missionare herum entstandenen Freien Christlichen Gemeinden in aller Regel Richtungsgemeinden mit sehr ausgeprägtem Profil und einem entsprechend weiten Einzugsbereich darstellen, deren Organisation nur durch die hohe Mobilität der Menschen in Ballungsgebieten möglich wird. Ebenso hängen die Vertriebsmöglichkeiten der Esoterikbewegung für Kurse, Seminare usw. weitgehend und zunehmend von modernen Kommunikations- und Verkehrmitteln ab.

3.1.6 Globalisierung und Lokalisierung

Wir erleben heute den verstärkten Wandel hin zu einer Weltgesellschaft: in ökonomischer Hinsicht, durch die Medien, aber auch in politisch-rechtlicher und kultureller Hinsicht. Die Tendenz zur Weltgesellschaft ist allerdings in ihren Auswirkungen zwiespältig. Es ist nicht einfach eine Entwicklung hin zu einer Vereinigung verschiedenster Kulturen und Gesellschaften in einer übergreifenden Form. Es ist zunächst einmal die Herstellung von Vergleichbarkeit und die Erfahrung des Verglichenwerdens: Vergleichbarkeit von politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Systemen, ihrer kulturellen Grundlagen und religiösen Denk- und Normensysteme. Hier ergeben sich zwei im Grunde gegenläufige Trends. Zum einen drängt die Weltgesellschaft angesichts der Vielfalt der Ausgangspunkte zur Generalisierung ihrer Werte und Regelungssysteme. D. h. das, was diese Weltgesellschaft inhaltlich eint, wird tendenziell immer allgemeiner, muß immer mehr auch gegensätzliche Traditionen umfassen. Zum anderen findet sich ein Trend zur Verfestigung regionaler und partikularer Lebenszüge. Globalisierung und Lokalisierung verbinden sich, wie Roland Robertson sagt, zu einer Glokalisierung.

Die Verallgemeinerung der rechtlichen und Wertgrundlagen geht einher mit der Abschottung regionaler Teilgesellschaften, die bestimmte partikulare Besonderheiten gewissermaßen auf die Spitze treiben. Unterscheidungen erhalten dadurch eine größere Bedeutung. Neue religiöse Teil- und Subkulturen entstehen. Dies ist ein Trend, der sich im übrigen auch in den Kirchen zeigt. Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen, aber auch neue Gemeinden in oder am Rande der Kirchen sind solche religiös begründeten Formen der Lokalisierung. Zugleich, und das ist die globale Dimension, etablieren sich aber eher kleine Gruppen als international übergreifende Organisationen, die weltweit agieren.

Hier entsteht ein Gegensatz zur jahrhundertelangen Erfahrung relativer religiöser Dominanzverhältnisse in Europa nach dem Westfälischen Frieden, denn religiöse Vielfalt und die Entwicklung neuer, alternativer oder einfach bis dahin unbekannter Formen religiösen Lebens und Handelns reibt sich an diesem Bild religiöser Geordnetheit.

Der Widerspruch besteht darin, daß der religiöse Markt und seine Möglichkeiten, neue Muster zu etablieren, mit gesellschaftlichen Erwartungen nicht übereinstimmt, und so Muster, die nicht dem Bild des Typus "Kirche” entsprechen, von vielen Betroffenen zunächst einmal negativ bzw. mit Besorgnis gesehen werden. Dies betrifft auch Gruppen und Bewegungen in den Kirchen (z. B. die Protestantische Bekenntnisbewegung, das Opus Dei) oder an deren Rand. In gewisser Weise verstärkt wird diese Situation durch die aus den Sozialwissenschaften insbesondere der 60er und 70er Jahre vertretene Vorstellung einer fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft, die die Tendenz nach Religion als Auslaufmodell verstanden hatte. Auch wenn die Soziologie heute von einer weiteren Säkularisierung der Gesellschaft ausgeht, so geht sie ebenso von der Verlagerung der religiösen Bedürfnisse auf das Individuum aus.

Ein weiteres Ergebnis der Globalisierung, die Implementierung enttraditionalisierter "fremder” religiöser Überzeugungen und Gruppen in soziale Zusammenhänge, verstärkt diesen Gegensatz. Denn es ist nicht nur eine andere gesellschaftliche Erwartungshaltung, auf die die neuen pluralen religiösen Phänomene stoßen. Vielmehr ist es auch eine potentiell aufstörende, ängstigende, in jedem Fall aber irritierende Anwesenheit des "Fremden” in religiöser Gestalt in direkten sozialen Umfeld, quasi "Tür an Tür”. So kann das am entfernten Urlaubsort gesuchte "Exotische” und "Fremde” als Bestandteil des lokalen Alltags zu einem als bedrohlich empfundenen Element werden.

3.1.7 Medien und Öffentlichkeit

Das gesellschaftliche Bild dessen, was sich als Religion öffentlich präsentiert oder präsentiert wird, ist in einer ganz bestimmten Richtung vorgeprägt. Legt man zugrunde, daß in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern Europas das Verständnis von Religion in erster Linie von einer relativen Homogenität und von der Gemeindereligion geprägt ist, heute aber daneben eine marktförmige Vielfalt besteht, so sind alle nicht diesem Bild entsprechenden Formen in der Öffentlichkeit zunächst einmal nur von ihrer Auffälligkeit oder Abweichung her darstellbar.

Es wäre falsch zu sagen, daß es die Sensationsberichterstattung in den Medien sei, die ein "Sektenproblem" erzeugt. Dagegen muß man sehen, daß die Medien, wie es der Begriff schon zum Ausdruck bringt, nur die Boten, die Vermittler sind, die in ganz bestimmter Weise auf die Erwartungen derer, denen etwas vermittelt werden soll, reagieren. Dennoch haben die Medien in einer immer stärker durch "mediale Hyperrealitäten” gekennzeichneten Gesellschaft ein nicht zu unterschätzendes Potential bei der Erzeugung von Bildern und Wahrnehmungsmustern. Insofern verschärfen die Medien die Problemlage, wenn sie undifferenziert eine "Sektengefahr” an die Wand malen. Der Kern des Problems liegt aber im nicht offenen gesellschaftlichen Diskurs über Religion.

Die öffentliche Darstellung von neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen in den Medien macht sich häufig fest an sensationellen Vorgängen. Diese wird dann zurückgehen und keinen Markt mehr finden, wenn sie soweit "entzaubert” ist, daß die eigene Betroffenheit und der eigene Ausgangspunkt einer religiösen Zuwendung mit reflektiert werden können. Interessanterweise wird ein Begriff wie der Sektenbegriff immer nur auf andere angewendet. Nicht nur für "Sektenmitglieder” sind die "Sektierer” immer die anderen. Nur so ist es zu verstehen, wenn fast 80 % (bei über 33 000 Anrufen insgesamt) in einer TED-Umfrage im Sender 3SAT im Dezember letzten Jahres dafür votierten, "Sekten zu verbieten”. In keinem anderen Bereich in der öffentlichen Diskussion scheint so wenig Information über das Feld zu bestehen, wie im Bereich neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen. Religion wird als Ganzes von den Extrempunkten her definiert. Eine brauchbare Information, die dem oder der Einzelnen den angemessenen Umgang, also die freie und informierte Wahl und Auseinandersetzung in religiösen Dingen ermöglichen würde, besteht häufig nicht. Es ist zu bezweifeln, daß die häufig sehr populäre Sensationsberichterstattung den Informationsgehalt der Bevölkerung erhöht.

Eine offene, unbefangene und informative Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Risiken der Sinnsuche und der religiösen Hingabe in der modernen Gesellschaft, findet deshalb nicht in einer alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Weise statt.


3.1.8 Erlebnisorientierung als Auswahlkriterium

Der Prozeß der Modernisierung läßt sich nach Gerhard Schulze, auch als "zweckrationale Umbildung von Handlungsstrukturen" begreifen. Die außengerichtete oder kollektivbezogene Modernisierung der Gesellschaft (die Ausbildung gesellschaftlicher Institutionen) schreitet weiter voran, aber sie wird ergänzt um eine innengerichtete Form.

Wenn durch eine unüberschaubare Vielzahl der Angebote und Möglichkeiten, die dem einzelnen Individuum zur Auswahl stehen, dieses letztlich handlungs- oder entscheidungsunfähig wird, weil die Vielfalt nur durch einen expliziten Verzicht auf weitreichende kollektive Normierungen entsteht, kann das Interesse für eine Handlungsoption, z. B. ein bestimmtes Produkt, das gekauft werden soll, durch einen direkten Bezug zum Individuum hergestellt werden. Innenleitung heißt also Anknüpfung an mögliche gewünschte Merkmale des Individuums. Konsum wird so zu einer Möglichkeit für das Individuum, sich selbst als etwas ganz Besonderes zu erweisen.

Auffällig ist hier der unmittelbare Subjektbezug der Handlungsmuster und damit auch eine starke Subjektivierung der Stabilisierung von Identität. Schulze nennt diese Form Erlebnisrationalität: "Das Subjekt behandelt sich selbst als Objekt, dessen Zustand manipuliert werden soll". Grundmuster solchen Erlebens können sein: Sozialer Rang, Konformität, Geborgenheit, Selbstverwirklichung oder Stimulation, wobei die Verwirklichung durch verschiedenste Mittel angestrebt werden kann. Gemeinsames Kennzeichen dieser Mittel ist, daß sie gesellschaftlich zwar zur Verfügung stehen, aber sowohl in positiver wie in negativer Form. Selbstverwirklichung kann erfahren werden durch Berufstätigkeit, aber auch durch expliziten Verzicht darauf, sie kann erfahren werden durch enge Sozialkontakte, aber auch durch soziale Isolierung, durch Gründung einer Familie oder durch ein Singledasein. Sie kann auch durch die fortwährende Steigerung der Intensität in der Verfolgung verschiedener Ziele insbesondere im Beruf, aber auch im sozialen Bereich gefunden werden.

Diese Art der unsicheren gesellschaftlichen Verankerung von Erleben, macht sowohl seine kollektive wie seine individuelle Erscheinungsform anfällig. Kollektiv verläßliche Strukturen entstehen nicht. Es gibt Moden, die sich sehr schnell wandeln. Sie wandeln sich marktförmig und können morgen schon ganz anders sein als heute. Individuell folgt daraus, daß die Erlebnisse sich nicht als Dauerzustände erhalten lassen. Ein dauerndes Suchen nach neuen bzw. erneuerten Erlebnismöglichkeiten in immer neuen Erlebnisfeldern, Erlebnisnachfrage und Erlebnisangebot verschränken sich zu einem Erlebnismarkt, der ein starkes, wenngleich sehr anfälliges Potential für den Ausdruck individueller Identität bietet.

Die Flüchtigkeit und Willkürlichkeit der entstehenden und vergehenden Formen sind für den Erlebnismarkt selbst unproblematisch. Probleme ergeben sich aber im Bezug auf die verläßliche Selbstdarstellung der Individuen. Denn der Erlebnismarkt vermag zwar einen hinreichend funktionierenden Alltag zu tragen, hält aber keine Antworten bereit, wenn sich Fragen nach dem Sinn des Lebens stellen, nach den großen Transzendenzen wie Krankheit, Tod oder andere Schicksalsschläge.

Die Forderung und gesellschaftliche Hochschätzung von individueller Selbstverantwortlichkeit und Autonomie, die Unterstellung individueller Leistungsfähigkeit und Leistungswillen mischt sich mit sehr stabilen spezialisierten institutionellen Bereichen und zunehmend allgemeiner werdenden gesellschaftlichen und kulturellen Werten. Diese Gemengelage führt, angesichts der (notwendigen) Schwächung der großen kollektiven Sinn- und Normsysteme, die insbesondere in Deutschland durch die Kirchen auf der einen Seite und die Wissenschaft auf der Grundlage der aufgeklärten Vernunft (Wissenschafts- und Fortschrittsglaube) auf der anderen Seite gegeben waren zu einem dauernden Bedarf nach einer den sehr individuellen Sinn- und Lebensproblemen angepaßten Sinnstiftung. Die relative Attraktivität erlebnisbezogener Religiosität und Psychotherapie in den letzten Jahren zeigt dies sehr deutlich. Dies gilt sowohl für Entwicklungen innerhalb der etablierten Religiosität als auch für die neue Religiosität.

Auch die Erlebnisorientierung mündet in einen Markt, auf dem sich individuelle Nachfrager bewegen und für Produkte entscheiden sollen. Dazu gehört auch das Bestehen kontrollierter Beratungseinrichtungen. Beratung ist in allen Bereichen immer wichtiger geworden, da es dem einzelnen Individuum immer weniger möglich ist, ausreichende Kompentenz in allen Lebensbereichen zu erwerben. Problematischerweise sind im religiösen und weltanschaulichen Bereich, der zunehmend mehr kommerzielle Dynamik entwickelt, professionelle Beratungsmöglichkeiten noch sehr unterentwickelt, da er in verkürzender Weise eher als Konkurrenz von Sinnsystemen angesehen wird und nicht auch als Versuch, ohne direkten und expliziten Bezug zu einem solchen Sinnsystem ganz profane Lebensprobleme zu bewältigen.

3.1.9 Die moderne Gesellschaft als Kommunikationsgesellschaft

In den letzten Jahren verdichten sich die verschiedenen soziologischen Zeitdiagnosen zu einer Theorie der Kommunikationsgesellschaft. Sie mündet in der Feststellung, daß sowohl die Differenzierung der Gesellschaft und die Entfaltung der inneren Logiken ihrer herausdifferenzierten Teilsysteme wie etwa des Wirtschaftssystems oder des politischen Systems, als auch ihre Vermittlung durch systemgrenzenüberschreitende Prozesse notwendig ist. Diese Vermittlung können spezifische Systeme bewerkstelligen, die man als spezifische Form der Kommunikation darstellen kann. Die moderne Gesellschaft muß in und zwischen allen gesellschaftlichen Feldern Brücken, bestehend aus grenzüberschreitenden Kommunikationszirkeln, schaffen, die den notwendigen Informationstransfer leisten, z. B. durch einfache Gesprächsrunden, in denen die Perspektiven verschiedener Bereiche ausgetauscht werden, oder durch Beiräte, Kommissionen, aber auch Vereine und öffentliche Diskurse.

Die moderne Gesellschaft kann keine "vollständige und definitive” Lösung der zentralen gesellschaftlichen Probleme mehr leisten. Modernität zeigt sich gerade in der Fähigkeit des flexiblen Umgangs mit Problemen. Ihre Leistungsfähigkeit und ihre Stabilität verdanken sich der Entfaltung der spezifischen Subsysteme. Die Steuerung von Gesellschaft durch die Setzung und Verfolgung bestimmter politischer Ziele ist ebensowenig eine Möglichkeit, wie das Vertrauen in die Wirtschaft und den Wohlstand, den sie bringen kann. Nur eine Vermittlung zwischen den Systemen kann die Moderne vor den Paradoxien bewahren, die sich aus der einseitigen Dominanz einzelner Subsystemlogiken ergeben würden. Und dies heißt für das politische Handeln: Regelung und nicht Steuerung. Anstoßung und Nutzung der Selbststeuerungskräfte in den anderen gesellschaftlichen Bereichen, die mit einem Problem befaßt sind, Erarbeitung der Ziele im Dialog und in der Auseinandersetzung mit den Beteiligten.

Es ist eine offene und hier auch nicht zu beantwortende Frage, wie die Religion bzw. die Religionen den beschriebenen Herausforderungen begegnen werden oder sollen. Ebenfalls ist hier nicht zu diskutieren, ob und wie Religion die mit ihr traditionell verbundenen Aufgaben ohne ein bestimmtes Maß institutioneller Transzendenz und Kontinuität erfüllen wird.

Eine Paradoxie besteht in der Gefahr, aus der Moderne in Formen der Traditionalität zu fallen. Gerade im religiösen Bereich erscheint sie allgegenwärtig. Allerdings wären traditionale Lösungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht tragfähig. Man kann nicht hinter die Moderne zurückgehen. Weltanschaulicher Pluralismus, Vielfalt der Lebensstile, Zentralität des Individuums bei der Bestimmung und Erhaltung persönlicher Identität, Leistungsorientiertheit statt gemeinschaftlicher Zugehörigkeit, systemische Diffenziertheit der Gesellschaft, all dies sind Kennzeichen der Moderne.

Als spezifische Lösungen auf biographischer oder Milieuebene können sich traditionale und partikulare Ansätze dagegen sehr wohl entfalten. Aber sie müssen im Kontext einer pluralen Gesamtgesellschaft integrierbar sein. Problematisch werden solche Ansätze vor allem dann, wenn sie in strafrechtlich relevante Handlungen einmünden bzw. wenn der deutliche Versuch erfolgen würde, eine Entdifferenzierung und Entmodernisierung auf der Ebene staatlicher und systematischer Zusammenhänge verbindlich durchzusetzen.

Was mit anderen Worten gesamtgesellschaftlich nicht mehr durchführbar ist, läßt sich sehr wohl auf der Ebene vermittelnder Systeme denken. In diesem Zusammenhang ist etwa an Konzepte wie die der "intermediären Institutionen” bzw. der "Revitalisierung kleiner Lebenswelten” zu erinnern.

Dieser Ausgangspunkt muß auch in den Debatten um neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen zugrunde gelegt werden. Alternative Lebensentwürfe und religiöse Ideen sind in ihrer Vielfalt ein "normaler” Bestandteil einer jeden modernen Gesellschaft, ein Bestandteil, der vermutlich an Bedeutung eher noch gewinnen wird. Damit handelt es sich natürlich keineswegs um eine pauschal positiv zu bewertende Erscheinung. Es wird allerdings deutlich, daß die Gesellschaft und ihre Institutionen sich auf diesen Sachverhalt einstellen, daß sie Vermittlungssysteme ausbilden müssen, die sowohl ein hinreichend harmonisches gesellschaftliches Gefüge, den Schutz der Individualität des einzelnen Menschen, als auch eine gemeinsame kulturelle Legitimationsgrundlage erhalten können. Daran fehlt es im weltanschaulichen Bereich, der selbst als eine solche Legitimationsbasis angesehen wird, bislang fast ganz.

3.2 Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psycho- gruppen im Spannungsfeld gesellschaftlicher Auseinandersetzung

Die Enquete-Kommission hat schon in ihrem Zwischenbericht den Weg beschritten, konsequent konfliktbezogen an das Thema neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen heranzugehen. Diese Perspektive ist dabei keine Neuerung der Kommission, sondern deutet sich schon in den Verlautbarungen und Stellungnahmen staatlicher Stellen in den letzten Jahren an. Die Kommission hat sich an die Veranlassung ihrer Einsetzung gehalten, nämlich die Petitionen von Bürgerinnen und Bürgern aus Anlaß konkreter, für den einzelnen Bürger kaum oder nicht mehr zu bewältigende Konfliktsituationen. Während der Arbeit der Kommission wurde immer deutlicher, daß eine pauschalisierende Herangehensweise, die sich des Begriffs "Sekte" als Oberbegriff für alle Formen neuer oder verbindlicher Art von Religiosität und/oder Weltanschauung bedient, der Vielfalt der Phänomene und der Unterschiedlichkeit der denkbaren Konfliktlagen nicht gerecht werden kann. Eine weitere Überlegung kommt hinzu. Die Verwendung des populären, aber nebulösen "Sekten"-Begriffs als Oberbegriff kann zu Stigmatisierungsefekten führen. Einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppe, die öffentlich als "Sekte" eingeordnet wurde, entstehen angesichts der hohen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gegenüber der vermuteten Konfliktträchtigkeit von "Sekten" vielfältige Probleme. Verschiedenste religiöse Gruppen, darunter kleinere christliche Gruppierungen, haben gegenüber der Kommission entsprechende Besorgnisse geäußert. Es ist daher im staatlichen Bereich weder angezeigt noch vertretbar, einen einheitlichen Oberbegriff ("Sekte") für konfliktträchtige Erscheinungen bzw. Gruppen anzuwenden, wenn die Öffentlichkeit diesen Begriff meist unreflektiert schon auf alle kleineren, neueren oder auch nur ungewohnten Gemeinschaften anwendet.

3.2.1 Historischer Abriß

In den sechziger Jahren erschien das Phänomen einer neuen oder alternativen Religiosität, aus den USA kommend, auch auf der gesellschaftlichen Bühne Europas. Es wurde zunächst politisch kaum zur Kenntnis genommen. Allenfalls sah man darin eine weniger problematische Nebenerscheinung der Jugendbewegung. Trotzdem sah man sich schon bald einer ganzen Reihe gut organisierter religiöser und weltanschaulicher Gruppen gegenüber.

Die Kirchen haben sich zuerst um dieses neue Feld gekümmert. Meist um die Sektenbeauftragten der evangelischen und der katholischen Kirche entstanden Initiativen von Betroffenen (Eltern, Angehörigen, Freunden, aber auch ehemaligen Anhängern) des Handelns dieser neuen religiösen Gruppen. Eine der ersten war die Münchener Initiative um den evangelischen Sektenbeauftragten Pfr. Friedrich Wilhelm Haack. Seine Schrift die "neuen Jugendreligionen” setzte 1974 einen ersten Standard in der Diskussion. In der Folge wurde das Phänomen unter Begriffen wie "Jugendreligion” oder "Jugendsekte” behandelt. Da es sich bei den meisten Gruppen, die Ende der 60er Jahre meist aus den USA nach Europa herüber kamen, in der Tat in erster Linie um Auffangbecken aus der Auflösung der Jugendbewegung handelte, bestand zunächst ein Jugendproblem.

Das Auftreten der neuen religiösen Gruppen fiel zudem in eine Phase rückläufiger Kirchenbindung. Deshalb wurden der Aspekt, daß vermehrt Jugendliche angezogen wurden und der Aspekt zunehmender Kirchendistanz zumal Jugendlicher miteinander verbunden. Der langsam hinzukommende Aspekt der Lebensbewältigungshilfe durch die Angebote neuer religiöser oder nichtreligiöser Anbieter wurde lange Zeit nicht hinreichend berücksichtigt, da die "Sektenperspektive” ein rein religiöses Phänomen suggerierte (vgl. dazu Kap. 3.5).

Die Beunruhigung von Teilen der Öffentlichkeit über das Auftreten neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen hat im Verlaufe der 70er Jahre dazu geführt, daß sich auch staatliche Stellen zu der Thematik äußerten. Durch die Bundesregierung und verschiedene Landesregierungen wurden Broschüren herausgegeben, die die Öffentlichkeit über "Sekten” aufklären sollten. Auch wurden in einigen Bundesländern Stellen eingerichtet, die die Aufgabe haben, sich mit den in diesem Zusammenhang stehenden Fragen zu befassen, Informationen zu sammeln, aufzubereiten und der Öffentlichkeit zuzuleiten. Da diese Stellen aber den Themenbereich in aller Regel nur "nebenbei” zu bearbeiten hatten, konnte anfangs keine staatliche Konzeption entwickelt werden. Auch wenn schon früh, so z.B. im 2. Sachstandsbericht der Landesregierung NRW von 1983, Ansätze zu einer solchen Konzeption zu finden sind, so beginnen sich erst langsam die verschiedenen Zielsetzungen und Herangehensweisen staatlicher und kirchlicher bzw. privater Organisationen auszuprägen. Dies ist ein Defizit, das bis heute besteht, dem sich auch die Enquete-Kommission widmen muß.

Von Anfang an profitierten die staatlichen Stellen von der Arbeit der kirchlichen Beauftragten und der Eltern- und Betroffeneninitiativen. Sie waren darauf weitgehend sogar angewiesen, da weder wissenschaftliche Grundlagen erarbeitet waren, noch in der Sozialarbeit oder bei den psychosozialen Beratungsdiensten angeknüpft werden konnte. So wurde die Erarbeitung einer einheitlichen staatlichen Konzeption weiter erschwert. Anfänglich waren die staatlichen Stellen auf die Arbeit der kirchlichen Beauftragten und der privaten Eltern- und Betroffeneninitiativen angewiesen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gab es hauptsächlich dort die erforderlichen Informationen aus der täglichen Beratungsarbeit und der Hilfestellung für die unterschiedlichen Gruppen von Betroffenen (Angehörige, persönliches und berufliches Umfeld, Aussteiger). Von seiten der psychosozialen Beratungsdienste, der Sozialarbeit und der Wissenschaft lagen keine für staatliche Stellen verwendbare Informationen in hinreichender Anzahl vor.

Weiterhin wurde von den großen Kirchen von staatlicher Seite eine gewisse Kompetenz und Zuständigkeit in religiösen Fragen erwartet, auch in bezug auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen. Diese Zuschreibung wurde durch die Entstehung eines religiös-weltanschaulichen Pluralismus (siehe Kapitel 3.1) fraglich, so daß staatlichen Stellen eine größere eigene Verantwortung zuwuchs, die den Aufbau eigener Sachkompetenz erforderte.

Der Erfolg staatlicher Maßnahmen bis heute ist im Zusammenhang mit neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen vor allem auch deshalb so schwer zu bemessen, weil die politischen Ziele lange Zeit nicht eindeutig definiert waren. Was soll bzw. was kann durch eine staatliche Intervention erreicht werden?

3.2.2 Ziele und Mittel der staatlichen Intervention

Staatliches Handeln steht mit Bezug auf religiöse Bekenntnisse unter dem Neutralitätsgebot des Grundgesetzes (vgl. dazu ausführlich Kap. 4.1 und Kap. 5.5.3.1). Das Grundgesetz definiert dabei nicht, was unter Religion oder Weltanschauung zu verstehen ist. Es setzt beides voraus. Auch wenn dabei an ein christlich-abendländisches Verständnis gedacht gewesen sein mag, so wird heute, angesichts einer sich pluralisierenden kulturellen Situation deutlich, daß Einschränkungen religiös-weltanschaulicher Betätigung nur sehr vorsichtig vorgenommen werden können. Vielmehr ist der Staat verpflichtet, die Religionsfreiheit - gerade auch die von religiösen Minderheiten - zu wahren und die freie Religionsausübung zu gewährleisten.

Die Rolle des Staates besteht u.a. darin, die Bürgerinnen und Bürger schützen und den sozialen Frieden zu erhalten. Im Zusammenhang mit den Konflikten im Bereich neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen kommen vier Interventionsformen vor:

- die Schaffung von gesetzlichen Rahmenbedingungen.

- Aufklärung, Information und ggf. Warnung der Öffentlichkeit über das bzw. vor dem Handeln neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen,

- Hilfe für "Opfer” bzw. Personen, die durch das Handeln neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen geschädigt wurden oder angesichts einer längeren Mitgliedschaft in einer verbindlichen oder geschlossenen Gruppe den Anschluß an die weitere Gesellschaft suchen und

- ggf. die Vermittlung von Konflikten zwischen religiösen Gruppen bzw. einzelnen Bürgerinnen und Bürgern und Gruppen.

Das staatliche Handeln dient u.a. der Reduktion sozialer Spannungen und dem Ausgleich widerstreitender Interessen. Dazu müssen die Ziele angemessen und vergleichbar bestimmt und Mittel zu ihrer Umsetzung gefunden werden.

3.2.3 Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psycho-
gruppen als gesellschaftliche Herausforderung

Die Enquete-Kommission hat in einer Anhörung verschiedene gesellschaftliche Gruppen um eine Stellungnahme gebeten. Darunter die Parteien, die im Bundestag vertreten sind, Vertreter der evangelischen, der katholischen Kirche, der Vereinigung der evangelischen Freikirchen, des Zentralrates der Juden in Deutschland, des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Deutschen Presserates und des Deutschen Sportbundes. Darüber hinaus kamen in der Anhörung "Sogenannte Sekten und Psychogruppen in der Wirtschaft" auch Vertreter der Wirtschaftsverbände zu Wort.

Bei allen Angefragten spielte das Thema eine Rolle, auch wenn nur wenige konkrete Betroffenheiten dargelegt wurden. Bei allen Parteien ist die Scientology-Organisation ein besonderes Thema. CDU/CSU, die SPD und die F.D.P. haben Unvereinbarkeitsbeschlüsse gefaßt, da sie der Auffassung sind, daß die Mitgliedschaft oder Anhängerschaft zur Scientology-Organisation nicht mit einer Mitgliedschaft in der Partei vereinbar sei. Die Ziele seien unvereinbar. Dabei stellt dies offenbar eine Ausnahme dar, denn derartige Abgrenzungen zu anderen Gruppen werden ausdrücklich nicht als notwendig angesehen.

Alle Parteien gaben an, daß sie weder durch die Scientology-Organisation noch durch andere neue religiöse und ideologische Gemeinschaften oder Psychogruppen unterwandert würden. Sie hielten aber Information und Aufklärung sowohl innerparteilich als auch in die Bevölkerung hinein für notwendig. Entsprechendes Schrifttum gibt es von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/ Die Grünen. Dabei zielen die Bemühungen durchweg darauf ab, einen angemessenen Umgang und ein besseres Verständnis von und mit Religiosität und Lebenshilfe unter den Bedingungen einer veränderten modernen Gesellschaft zu erreichen. Der F.D.P.-Vertreter wies zudem darauf hin, daß eine bundeseinheitliche Grundlage für Information und Aufklärung nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig sei.

Der Vertreter des Deutschen Sportbundes führte aus, daß in Einzelfällen durchaus versucht werde, auf Sportvereine Einfluß zunehmen. Insbesondere die Bereiche Marketing und Sponsoring seien dabei Anknüpfungspunkte. Die wenigen bekannt gewordenen Fälle bezögen sich auf die Scientology-Organisation. Allerdings könne von einer Unterwanderung nicht die Rede sein. Auch der Deutsche Sportbund setzt auf Information und Aufklärung seiner Mitglieder.

Der Vertreter des Deutschen Presserates machte auf zwei andere Problemkreise aufmerksam. Zum einen sei insbesondere durch die Scientology-Organisation wiederholt versucht worden, konsequent, systematisch und offensiv begleitende Berichterstattung und Kommentierung zu unterbinden. Diese Versuche seien aber bisher insgesamt nicht sehr erfolgreich gewesen. Die Verlage und Presseorgane hätten das Problem erkannt und würden selbst damit fertig.

Zum anderen stehe es der Presse selbst an, zur Versachlichung der Berichterstattung über neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen beizutragen. Allerdings sei das Thema in der Arbeit des Deutschen Presserates kein großes Problem. Durchschnittlich seien in den letzten Jahren etwa 12 Beschwerdefälle aus dem Themenbereich vorgekommen. Diese hätten sich zumeist auf die Scientology-Organisation bezogen. Von einer Unterwanderung der Presse oder gar Bedrohung der Pressefreiheit könne keine Rede sein.

In ähnlicher Weise haben sich auf die Vertreter der Wirtschaftsverbände bei der Anhörung "Sogenannte Sekten und Psychogruppen in der Wirtschaft" geäußert. Das Thema sei in den letzten Jahren deutlich in den Vordergrund gerückt. Allerdings könne das konkrete Ausmaß einer möglichen Bedrohung nur schwer beurteilt werden. Einerseits lägen nur wenige Einzelfallberichte vor, in denen in der Regel die Scientology-Organisation Einfluß auf die Unternehmensführung gewinnen konnte, zum anderen sei das Imageproblem, im Zusammenhang etwa mit der Scientology-Organisation genannt zu werden, gravierend und ziehe massive wirtschaftliche Folgen nach sich.

Weitere Akzente setzten die Angehörigen der geladenen Religionsgemeinschaften. Der Vertreter der Katholischen Kirche wies auf die Pluralisierung der Sinnangebote in der modernen Gesellschaft hin. In Zeiten der Individualisierung und Pluralisierung würden die Sinnangebote der Kirchen die Menschen weniger ansprechen. Auch innerkirchliche Ansätze und Gruppenangebote versuchten, neue Wege zu gehen. Man dürfe nicht ausgrenzen, sondern müsse stattdessen versuchen, auch an diese Bedürfnisse Angebote zu richten. Nach einer Phase etwas heftigerer Auseinandersetzung mit neuen religiösen und weltanschaulichen Angeboten, setzten die Sektenbeauftragten der katholischen Kirche heute auf mehr Gelassenheit und Informationsvermittlung.

Der Vertreter des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands meinte einerseits, daß es notwendig sei, in dieser neuen unübersichtlichen Lage Mißbrauch zu verhindern. Er sprach sich für einen konsequenten Verbraucherschutz auch im Bereich der Sinn- und Lebenshilfeangebote aus. Hier gebe es Nachholbedarf. Andererseits meinte er, daß die Kritik an möglichen Mißbräuchen sehr vorsichtig geschehen müsse. Ansonsten bestehe die Gefahr, daß Kritik an neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen und ihren Angeboten sich in eine allgemeine Religionskritik verkehre.

Die Vertreterin des Zentralrates der Juden in Deutschland zeigte sich "betroffen und verletzt” durch den Vergleich der Situation der Scientology-Organisation in Deutschland mit der Lage der Juden im Holocaust. Sie wies diesen Vergleich nachdrücklich zurück. Die Problematik mache jedoch deutlich, wie vorsichtig, aber auch notwendig die gesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgen müsse. Gesetzliche Maßnahmen erschienen hier weniger angezeigt, vielmehr müßten die gesellschaftlichen Ursachen gesehen und beseitigt werden. Sie wies besonders darauf hin, daß in der jüdischen Gemeinschaft neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen nicht Fuß fassen könnten.

Der Vertreter der Vereinigung der Evangelischen Freikirchen zeigte sich betroffen über eine "Sektenphobie”, die es nach seiner Wahrnehmung in Deutschland gebe. Diese komme auch in der Infratest-Studie, die im Auftrag der Enquete-Kommission erstellt wurde, zum Ausdruck. Ganz unterschiedliche Gruppen würden in einen Topf geworfen und pauschal für gefährlich und bedrohlich gehalten. Dies betreffe mittlerweile auch die Freikirchen. Er mahnte die sorgfältige Differenzierung und informierte, angemessene Behandlung des Themas an. Es sei klar, daß man vor bestimmten aggressiven Formen warnen müsse. Aber diese Warnungen müßten ganz deutlich machen, auf welche konkreten Gruppen und Vorkommnisse sie sich bezögen. Man müsse auch sehen, daß es weitgehend gesellschaftliche Ursachen seien, die die Ausbreitung problematischer Gruppen möglich machten.

Zusammenfassend wurde aus der Anhörung der gesellschaftlichen Gruppen deutlich, daß:

- aus ihrer Sicht die meisten konkretisierbaren Probleme und Konflikte am Ende der 90er Jahre auf die Scientology-Organisation bezogen sind,

- durchweg auf Aufklärung und Information gesetzt wird, wobei die Darstellung in den Medien und die öffentliche Reaktion als z.T. "überhitzt” angesehen werden,

- gesellschaftliche Wandlungsprozesse und ihre individuelle und soziale Verarbeitung als Ursachen gesehen werden,

- die Sorge über Umschlagen der "Sektenkritik” in eine pauschale Religionskritik geäußert wird und

- besonders bei den Freikirchen die Besorgnis über Stigmatisierung und Ausgrenzung religiöser Minderheiten durch die undifferenzierte Wahrnehmung und Angst in der Gesellschaft besteht.

3.2.4 Die Befragung verschiedener Gruppen

Die Enquete-Kommission hat in ihrer 34. Sitzung am 13. November 1997 einvernehmlich beschlossen, eine Befragung von Gruppen durchzuführen. Ziel dieser Befragung war es, von den jeweiligen Gruppen zu erfahren, inwieweit sich die öffentliche Diskussion und Darstellung zum Bereich neue religiöse und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen nachteilig auf sie bzw. auf ihre Mitglieder auswirkt.

Wesentlicher Grund für die Durchführung dieser Befragung waren zahlreiche Anfragen und Beschwerden unterschiedlicher Gruppen an die Vorsitzende und an Mitglieder der Enquete-Kommission. In diesen Schreiben wurde des öfteren auf Benachteiligungen hingewiesen. Ebenso liegen mehrere Stellungnahmen von verschiedenen Gruppen zum Zwischenbericht der Enquete-Kommission vor.

Folgende Fragen galt es zu beantworten:

a) Wie beurteilen Sie die öffentliche Darstellung Ihrer Gemeinschaft durch Medien, Politik, Amtskirche u. a.?

b) Sofern es Entscheidungen staatlicher Einrichtungen gibt, die Ihre Gemeinschaft betreffen: Wie beurteilen Sie diese?

c) Sind Ihnen Benachteiligungen von Mitgliedern bekannt, die ihren Ursprung in dieser Mitgliedschaft haben?

d) Wie beurteilen Sie den Zwischenbericht der Enquete-Kommission?

Ausgewählt wurden Gemeinschaften, die einen Schriftwechsel mit der Enquete-Kommission führten und von der Kommission eingeladen wurden. Daneben wurden die Freikirchen angeschrieben, die im Verband Evangelischer Freikirchen (VEF) zusammengeschlossen sind.

Einige Gruppen haben das Anschreiben mit den aufgeführten Fragen dahingehend verstanden, daß sie sich als Religions- oder Heilungsgemeinschaft legitimieren müßten. Sie verbinden mit ihrer Antwort die Hoffnung, daß die Enquete-Kommission ihrer Gruppe an geeigneter Stelle (Stellungnahmen oder Abschlußbericht) bescheinigen möge, daß sie keine "Sekte" sei. Einige wenige Gruppen haben es abgelehnt, die Fragen zu beantworten, da sie sich nicht als "Sekte" verstünden.

Viele Antwortschreiben machen über die Beantwortung der Fragen hinaus Anmerkungen zur jeweiligen Gruppe oder zur Arbeit der Enquete-Kommission, z. B. zur Begriffsproblematik "Sekten und Psychogruppen". Die Gruppen bemängeln, daß es sich z. B. bei dem Begriff "Sekte" um einen "kirchlichen Kampfbegriff" handele. In eine ähnliche Richtung zielend wird die Sorge geäußert, daß dieser Begriff von den Kirchenvertretern in der Enquete-Kommission definiert werden könnte. Damit verbinden einige Gruppen den Verdacht, daß einschlägige Tendenzen innerhalb der Großkirchen bewußt ausgeklammert würden.

Befragungsergebnisse

Am ausführlichsten nehmen die Antwortschreiben zu den Medien Stellung. Kritisiert wird überwiegend eine verzerrende oder falsche Darstellung der jeweiligen Berichterstattung zur betreffenden Gruppe.

Es fällt besonders auf, daß sich die Gruppen objektiv dargestellt sehen, wenn sie in den Medien in ihrem Sinne positiv präsentiert werden. Dagegen fühlen sie sich benachteiligt, wenn sie kritisch dargestellt werden. Als Grund für eine kritische Berichterstattung in den Medien wird z. B. mangelnde Recherche, Sensationsjournalismus oder schlicht Unkenntnis behauptet.

Wenige Gruppen üben Kritik an der öffentlichen Darstellung durch die Politik oder staatliche Stellen. Wichtigster Kritikpunkt sind die Veröffentlichungen in den staatlichen "Sektenberichten", wobei diese aufgrund der Formulierung im jeweiligen Anschreiben als "Entscheidungen staatlicher Einrichtungen" verstanden wurden. Bei den "Sektenberichten" wird kritisiert, daß diese sich aus einseitigen Quellen speisten. Daneben werden unter den "Entscheidungen staatlicher Einrichtungen" auch negative Darstellungen in Lehrmaterialien, Entzug bzw. Nichterteilung des Gemeinnützigkeitsstatus sowie auch Verbote von Veranstaltungen etc. behauptet.

Die Befragung ausgewählter Gruppen bzw. Gemeinschaften kann allgemein als erfolgreich bewertet werden. 23 von insgesamt 27 Gruppen haben teilweise sehr umfangreich geantwortet. Die überwiegende Anzahl der angeschriebenen Gruppen ist zu einer weiteren Mitarbeit bereit. Von einigen Gruppen wird die schriftliche Anfrage als besonderer Beitrag zu einem konstruktiven Dialog gewertet.

Von vielen antwortenden Gruppen wird die Rolle der Kirchen bei der öffentlichen Darstellung kritisch betrachtet. Insbesondere die Veröffentlichungen der kirchlichen Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten besäßen eine hohe Definitionsmacht und prägten auch das öffentliche Meinungsbild nachhaltig. Allerdings muß die Reaktion insgesamt sehr differenziert gesehen werden:

- Der größte Teil der Gruppen betonte Dialogbereitschaft und wünschte sich einen offeneren und intensiveren Austausch mit den Kirchen.

- Ein kleinerer Teil der Gruppen steht der öffentlichen Darstellung durch die Kirchen kritisch und skeptisch gegenüber und sieht eher keine Dialogbereitschaft der Kirchen.

- Nur einige wenige Gruppen weisen die kirchliche Befassung und den Austausch grundsätzlich zurück. Die Kirchen sähen sie als Konkurrenten, die ins Abseits getrieben werden sollten. Ein Dialog wird weder erwartet noch befürwortet.

Die große Mehrzahl der Gruppen schätzt die Benachteiligungen ihrer Mitglieder im öffentlichen Leben als gering ein. Es werden zwar auch eine ganze Reihe von Fällen von Diskriminierungen und Benachteiligungen von Mitgliedern durch Beleidigungen, Beschimpfungen, Probleme im Familien- und Bekanntenkreis sowie Probleme von Kindern in Schule und Kindergarten, wenn die Gruppenzugehörigkeit öffentlich bekannt wurde, benannt. Diese Einzelfälle waren für die Enquete-Kommission nicht überprüfbar.

Betrachtet man allerdings die Stellungnahmen von ihrem Gesamttenor her, dann erscheinen diese als Einzelfälle, die ernst genommen werden wollen, aber keineswegs die grundsätzliche Situation von Minderheitengruppen in Deutschland abbilden. Vielmehr wird insbesondere von den Freikirchen, aber auch von anderen Gruppen, die pauschalisierende öffentliche Diskussion ("Sektenphobie”) als bedrohlich und zurücksetzend empfunden. Einige sehen den Ausweg in der Bereinigung der Vorwürfe und gewissermaßen der Erstellung von "schwarzen" und "weißen" Listen durch die Enquete-Kommission. Deutlich wird aber durchweg, daß man sich eine offenere und unbefangene öffentliche Diskussion wünscht.

3.2.5 Schlußfolgerungen

Die obigen Auswertungen machen zwei Stränge im gesellschaftlichen Spannungsfeld um neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen deutlich.

Zum einen hat sich mit der weiteren Entkopplung von Religion und Lebenshilfe ein neuer weitgehend ungeregelter Bereich sozialer Zusammenhänge ergeben. Vieles, was früher in den Kontext einer religiösen Lebensführung eingebunden war, findet sich heute auch als nichtreligiös kontextuiertes Lebenshilfeangebot. Abgesehen von den jeweiligen Wirksamkeitsnachweisen, fehlt solchen Angeboten die Einbindung in eine alltagserprobte Praxis. Daraus ergeben sich z.T. große Konflikt- und Problempotentiale, die nicht dem Bereich der religiös gebundenen Lebensführung zugeschrieben werden dürfen.

Zum anderen ist nach den Ergebnissen der Kommissionsarbeit der Aspekt der öffentlichen Auseinandersetzung problematisch. Hier können bestehende Probleme sogar verschärft werden, wenn die Gesamtwirkung nicht berücksichtigt wird. Hierzu einige Anmerkungen:

Neben der ausstehenden Entwicklung einer einheitlichen Konzeption zu Aufklärung, Beratung und ggf. Mediation beim Bund und bei den Ländern scheinen folgende Aspekte berücksichtigenswert. Zum einen hatten die Aufklärungsschriften der Länder zwar eine wichtige Funktion für die Aufklärung der Bürger und die Versachlichung der öffentlichen Diskussion, sie hatten jedoch zum anderen auch gewisse Nebenwirkungen. Sammelschriften stellen sehr verschiedene Gruppen, die sich in unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung befinden, nebeneinander. Es ergeben sich immer Ausstrahlungseffekte von den problematischeren Gruppen auf die anderen. Tendentiell trifft so die Ausstrahlung der momentan "gefährlichsten Gruppe” alle anderen ebenso. Weiterhin ergeben sich Akkumulationseffekte dadurch, daß die problematischen Merkmale sich von einer referierten Gruppe zur nächsten ansammeln, so daß sich für die Leserinnen und Lesern solcher Broschüren am Ende unzutreffende Gesamtbilder ergeben können.

Es ist angezeigt, in der staatlichen Aufklärung auf solche Sammelberichte zu verzichten und stattdessen Einzelbeschreibungen von Gruppen bzw. Bewegungen zu erstellen, zu denen aktueller Informations- und Aufklärungsbedarf besteht. Diese Einzelbeschreibungen sollten im Kern Konfliktberichte sein und müßten regelmäßig aktualisiert werden. Hierbei sollte auch zwischen rechtlich relevanten "harten” Konflikten und anderen eher sozial relevanten, "weichen” Konflikten unterschieden werden. Ein Nebeneffekt einer solchen Vorgehensweise wäre zudem die schnellere Verfügbarkeit, da ggf. nur mit der jeweils dargestellten Gruppe gerichtliche Auseinandersetzungen geführt werden müßten. Eine Kumulation von Klagen und einstweiligen Verfügungen, die das Erscheinen staatlicher Informationsschriften bisher deutlich verzögert haben, würde entfallen.

Zum anderen würden auch Anreize für konfliktträchtige Gruppen gegeben, da die Berichte mit Wegfallen oder der Abfederung besonders konflikthafter Merkmale und Verhaltensweisen entbehrlich würden. In jedem Fall würden Konfliktmerkmale nicht mehr pauschal dem gesamten Bereich zugerechnet werden können.

Außerdem sollte grundsätzlich auf eine vereinheitlichende Begrifflichkeit wie "Sekte” verzichtet werden. Stattdessen sind spezifischere Bezeichnungen notwendig, die die Struktur, die Ausrichtung, die Ziele und ggf. die besonderen Konfliktmerkmale der jeweiligen Gruppe ausdrücken (vgl. dazu Kap. 2).

Da es sich bei den Gründen für die Attraktivität problematischer religiöser oder nichtreligiöser Gruppen auch um die Bewältigung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse handelt, kann eine Lösung nur zum Teil in verbesserter Information und Aufklärung liegen. Auch das hat die Anhörung der gesellschaftlichen Gruppen ergeben. Es ist auch ein im weiteren Sinne gesellschaftliches Problem. Und es gehört ebenso zur Modernisierung der Gesellschaft, die sozialen Rahmenbedingungen der bürgerlichen Existenz so zu gestalten, daß problematische Ausprägungen, seien sie religiöser oder politischer Natur, wenig Aussicht auf Erfolg haben. Dazu gehören auch soziale Qualitäten wie Wohlstand, Solidarität und Mitmenschlichkeit ebenso, wie kulturelles und interkulturelles Lernen und Toleranz. Es gehört dazu aber auch die breite gesellschaftliche Diskussion der Fragen von Religions-, Weltanschauungs- und Lebenshilfe, sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung damit. Beides ist in den vergangenen Jahrzehnten nur unzureichend geleistet worden.