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Judas-Evangelium: historisches Dokument oder gnostisches "Akrobatenstück"?

Ermanno Pavesi (vobiscum. Publikationsorgan des Erzbistums Vaduz, 8. Jahrgang, 03 2006, 34-42)

1. Das Judas-Evangelium

Im April dieses Jahres hat die amerikanische National Geographic Society bekannt gegeben, dass ein als Judas-Evangelium bezeichnetes Manuskript in koptischer Sprache nach jahrelanger Arbeit entschlüsselt und übersetzt worden ist (1). Das Manuskript wurde vor ca. 20 Jahren in der ägyptischen Wüste gefunden und soll aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. stammen, wobei es sich um die koptische Übersetzung eines bedeutend älteren griechischen Textes handeln könnte, der von Irenäus von Lyon bereits Ende des 2. Jahrhunderts zitiert wurde.

Diese Meldung hat ein grosses Echo ausgelöst, weil das Evangelium Judas Iskarioth rehabilitieren möchte: Judas hätte nicht Jesus verraten, sondern hätte in dessen Auftrag gehandelt, damit Jesus die eigene Sendung zu Ende führen konnte.

2. Gnosis und Gnostizismus

Das griechische Wort ‚Gnosis’ bezeichnet ursprünglich das rationale Erfassen von Sachverhalten durch Einsicht. In der Spätantike bezeichnet dieses Wort immer mehr ein spezielles, durch persönliche Einsicht erworbenes Wissen über die Natur des Menschen und der Welt, das häufig dem religiösen Glauben gegenübergestellt wird. Das kann gelegentlich zu terminologischen Schwierigkeiten führen: Eigentlich hat jede mystische Erfahrung einen gnostischen Charakter, die Frage ist aber, ob der Mensch, sich seiner Fehlbarkeit bewusst, bereit ist, seine persönlichen Erkenntnisse der Offenbarung, der Tradition und dem Lehramt unterzuordnen oder ob er im Gegensatz den absoluten Primat seiner persönlichen Erfahrung zuschreibt. Religionsgeschichtlich bezeichnet Gnostizismus, aber manchmal auch Gnosis, eine Erlösungsreligion, die ihren Höhepunkt im Mittelmeerraum im 2. nachchristlichen Jahrhundert erreicht hat.

Über längere Zeit ist uns der Gnostizismus vor allem durch die Werke der Kirchenväter bekannt gewesen, die den Anspruch mancher Gnostiker, das echte Christentum zu vertreten, scharf verurteilten. Da die meisten Quellen die Polemik der Kirchenväter gegen den sich christlich gebärdenden Gnostizismus betrafen, hat man dieses Phänomen oft auch von diesem besonderen Blickwinkel betrachtet, und es gibt Spezialisten, die es für eine besondere Entwicklung des Christentums und somit für eine kircheninterne Angelegenheit gehalten haben.

Im Laufe der Zeit hat die Religionswissenschaft weitere Quellen erschlossen; besonders wichtig war Mitte der vierziger Jahre der Fund einer ganzen gnostischen Bibliothek in einer Grotte in der ägyptischen Wüste, in der Nähe von Nag Hammadi. Diese Funde haben unter den Fachleuten die Diskussion über Wesen und Anfang der Gnosis wieder entfacht.

3. Das Wesen des Gnostizismus

In der Fachliteratur werden einige Merkmale als für den Gnostizismus charakteristisch gehalten.

Die materielle Welt wird völlig negativ gesehen: nach einigen Traditionen ist die Welt das Produkt, beinahe das Abfallprodukt, einer Abwärtsentwicklung des Göttlichen, das sich  immer mehr mit der Materie vermischt und kontaminiert. In anderen Traditionen, vielleicht gerade in denjenigen, die sich mit der biblischen Lehre eines Schöpfergottes konfrontierten, ist ein persönliches Wesen, der Demiurg, der Urheber der Entstehung dieser minderwertigen materiellen Welt. Der Demiurg nimmt einige Züge, wohl unter entgegengesetztem Vorzeichen, des Schöpfergottes des Alten Testaments an und wird zum Gegenspieler des rein spirituellen höchsten Wesens. Mit Hilfe einiger ihm untergeordneten Wesen, der Archonten, beherrscht der Demiurg die materielle Welt und die Menschen, sofern diese noch nicht die Gnosis erworben haben.

Typisch für einige gnostische Schulen sind auch die Kosmologien, die genauen Beschreibungen dieser Abwärtsentwicklung mit der Entstehung von langen Genealogien von mythologischen Wesen – Genealogien, die manchmal auch von Zahlensymbolik geprägt sind.

Das steht in krassem Gegensatz sowohl zur biblischen Tradition, wo der Schöpfer das höchste Wesen ist und die Schöpfung „gut“ ist, wie auch zum christlichen Glauben, wonach Himmel und Erde, sichtbare und unsichtbare Dinge vom gleichen Gott geschaffen worden sind.

Der gnostische Dualismus prägt auch das Menschenbild. Körper und Geist haben verschiedenen Ursprung: der Menschengeist ist mit dem Gottesgeist identisch, während der Körper der materiellen, demiurgischen Dimension angehört.

Die Gnosis besteht gerade in der Erkenntnis, dass der Menschengeist ein göttlicher Funke ist, der durch die List des Demiurgen, der die Menschen zur Fortpflanzung verführt, in einen menschlichen Körper gefallen und entfremdet worden ist von der ursprünglichen Einheit des Geistes. Ohne Gnosis würden sich die Menschen in einem Zustand der Unwissenheit befinden: „Das Dasein des Menschen unter den hiesigen Bedingungen ist Betäubung, Trunkenheit, Gefangenschaft, Angst und Wahn, Schlaf, Irren, Vergessenheit, Zersplitterung, Heimweh, Mangel, Leiden“ (2).

Einige gnostischen Systeme tragen einen eindeutig elitären Charakter. „Der Valentinianismus [eine gnostische Schule des 2. Jh. n. Chr., die nach ihrem Gründer, Valentin, genannt wird] teilt die Menschen in drei Klassen: Pneumatiker, Hyliker (materielle Menschen), die mit Notwendigkeit zugrunde gehen, und Psychiker, die eines relativen Heiles fähig sind, sofern sie den Vorschriften der Grosskirchen Folge leisten. In zahlreichen Systemen [...] findet sich die Lehre von der Seelenwanderung, die eine grosse Rolle bei der Möglichkeit der sukzessiven Aussonderung der zu errettenden Lichtfunken spielt" (3).

In dieser Lehre wird die Gnosis - und die Erlösung - deshalb nur auserwählten Menschen vorbehalten, den Pneumatikern oder Gnostikern.

"Menschen dieser Art, sensible und intuitive Naturen, sehen, was andere eben nicht sehen. Die Viel zu Vielen betrachten das als Träume eines Geistersehers. Der Gnostiker aber weiss es besser. Er hat ja in sich etwas Reelles, ein Organ, einen Empfangsapparat für die Kurzwellen, die im Kosmos sind und aus der anderen Welt herüberkommen. [...] Der Gnostiker ist nicht wenig stolz darauf und nennt seinen Apparat mit einem philosophischen Ausdruck: Nous. Man sollte dies mit Überbewusstsein, höherem Bewusstsein, Hellsehen oder am besten Intuition übersetzen" (4).

Die Gnosis hätte eine erlösende Funktion, die Einsicht in den „Fall“ des Funkens wäre auch die Voraussetzung für den Wiederaufstieg, für die Himmelfahrt der Seele bis zum Lichtreich und die Vereinigung des Funkens mit dem Höchsten Wesen.

4. Anfänge der Gnosis

Über die Anfänge der Gnosis sind sich die Spezialisten nicht einig. Es sind deshalb Begriffe geprägt worden, wie Prä-Gnosis, Proto-Gnosis, gnostizierend usw., die erlauben, auch bei einer strengen, hauptsächlich auf den Gnostizismus des 2. Jahrhunderts orientierten Definition sowohl mögliche Entwicklungsstufen wie Grenzbereiche zu erfassen.

Es wird allgemein angenommen, dass es vor einer christlich orientierten Gnosis eine „jüdische Gnosis“ gegeben hat, so dass man die Existenz gnostischer Elemente schon in vorchristlicher Zeit annehmen muss. Die Forscher versuchen auch die Entwicklung gnostischer Elemente rückwärts zu verfolgen, wobei mögliche Vorgänger in verschiedenen kulturellen Räumen identifiziert werden. Zum Beispiel betrachten einige Spezialisten die griechische Orphik des 6. Jahrhunderts v. Chr. als eine Vorform der Gnosis. Oft wird auch zwischen einer syrisch-ägyptischen und einer indo-iranischen Gnosis unterschieden. Rudolph hat versucht in einem Schema diese Entwicklungen und die verschiedenen Wechselwirkungen darzustellen. [könnte man das Schema von Rudolph hier einfügen oder mindestens in der gleichen Seite platzieren, mit dem Verweis z.B. s. Tabelle]  

Sowohl eine Definition des Gnostizismus wie die zeitliche und örtliche Ausbreitung dieses religiösen Phänomens sind nicht einfach anzugeben. „Die moderne Forschung bezeichnet mit dem Terminus 'Gnosis' eine sich in mannigfaltigen und weit verstreuten Gemeinschaftsbildungen manifestierende, im Grunde nichtchristliche religiöse Bewegung der Spätantike.

Diese Religion tritt zumindest gleichzeitig mit dem jungen Christentum in Erscheinung und verbreitete sich in Palästina, Syrien, Kleinasien, Ägypten, Italien (Rom) und anderen Gebieten des Mittelmeerraumes. Schon früh kam es zu Berührungen zwischen Christentum und Gnosis, die sich christliches Lehrgut in Umdeutung und Überbietung dienstbar machte, ein Prozess, in dessen Verlauf vor allem die Gnosis starke Einflüsse aufnahm. Diese Gestalt der gnostischen Bewegung wurde als christliche Häresie (Gnostizismus) betrachtet und von der Kirche als eine gefährliche Rivalin bekämpft, da viele Gnostiker den Anspruch erhoben, die einzig wahren Christen zu sein“ (5).

5. Umgang der Gnostiker mit den Motiven anderer Religionen

Ein auch für die Beurteilung des Evangeliums von Judas besonders wichtiger Aspekt der gnostischen Schulen besteht in ihrer Art, andere Religionen in ihre Systeme einzubauen. Laut einem tschechischen Spezialisten, hat der Gnostizismus in seinen „komplizierten mystischen Spekulationen die antike Religion aufgehoben“ (6). Und Rudolph betont: „Ein sonst nicht weiter beachteter Zug des Gnostizismus ist die ihm eigene ‚parasitäre’ Rolle, die m. E. zuerst [der italienische Gnostizismusforscher] U. Bianchi richtig beobachtet hat. Einen ‚reinen’ Gnostizismus finden wir nämlich nirgends vor, immer ist er angelehnt an fertige ältere Religionsgebilde bzw. deren Überlieferungen. Er wuchert wie Parasiten (oder Pilze) auf fremdem Boden, den ‚Wirtsreligionen’, wenn man so sagen kann, wozu die griechische, jüdische, iranische, christliche und islamische gehören. Der Gnostizismus hat also keine eigene Tradition, sondern nur eine geborgte. Seine Mythologie ist eine ad hoc geschaffene aus fremdem Gut, das er sich seiner Grundkonzeption entsprechend amalgamiert hat. Trotz dieser Eigenart bildet der Gnostizismus ‚einen organisch-historischen Komplex’, wie Th. P. Van Baareb mit Recht hervorhebt. Der Gnostizismus ist also eine spätantike parasitäre, kosmopolitische Religion“ (7).

Man muss hier aber erwähnen, dass längst vor Bianchi schon die Kirchenväter den parasitären Charakter des Gnostizismus dem Christentum gegenüber betont hatten, es ist jedoch sicher ein Verdienst der modernen Forschung gewesen, das gleiche ebenfalls für den völlig willkürlichen Umgang der Gnostiker mit den Quellen auch anderer Religionen festgestellt zu haben. Die Experten scheinen auch darüber einig zu sein, dass die Übernahme von christlichen Elementen keinesfalls eine Christianisierung des Gnostizismus darstellt: „Die Gnosis verändert sich nicht durch diese parasitäre Einnistung in die biblisch-christliche Überlieferung, in die noch weitere Motive und Stoffe aus dieser [gnostischen] Tradition einbezogen werden. Aber sie verändert umgekehrt die amalgamierten Elemente“ (8).

"Die Gnostiker scheinen sich besonders darin gefallen zu haben, ihre Lehren auf vielfältige Weise zum Ausdruck zu bringen, und handhabten ihre Schriftstellerei mit grosser Fertigkeit [...]. Dabei wird die in der Antike verbreitete Auslegungskunst der Allegorie und der Symbolik weidlich angewandt, d.h., man unterlegt einer Textaussage einen oder gar mehrere tiefere Sinngehalte, um sie für die eigene Lehre in Anspruch nehmen zu können oder ihren inneren Reichtum aufzuweisen. Diese Methode der Exegese ist in der Gnosis ein Hauptmittel, unter dem Deckmantel der älteren Literatur - vor allem der heiligen und kanonischen - die eigenen Vorstellungen vorzuführen. [...] Man kann regelrecht von einer 'Protest-Exegese' sprechen, insofern sie dem äusseren Wortlaut und herkömmlichen Verständnis zuwiderläuft.

Eine weitere, damit zusammenhängende Eigenart der gnostischen Überlieferung liegt darin, dass sie sich vielfach ihr Material aus den verschiedensten vorliegenden Traditionen holt, sich an sie anlehnt und sie gleichzeitig in einen neuen Rahmen stellt, wodurch sie einen anderen Charakter, eine völlig neue Beleuchtung erhalten" (9).

6. Eugnostos und Die Weisheit Jesu Christi

Es gibt sichere Beweise für die Einrahmung einer gnostischen Lehre in einem christlichen Kontext: in den Texten von Nag Hammadi befinden sich zum Beispiel zwei Werke mit verschiedenen Titeln, denen aber der grösste Teil des Textes gemeinsam ist. Im Eugnostos wird schlechthin eine gnostische Lehre dargestellt, in der Weisheit Jesu Christi bekommt diese Lehre eine christliche „Rahmenhandlung am Anfang und am Ende“ (10).

Die Forscher sind sich darüber einig, dass Eugnostos älter ist als die Weisheit Jesus Christi und dass dieser zweite Text eine Bearbeitung des ersten ist mit der Hinzufügung eines christlichen Rahmens.

Ohne auf den Wert der Theorien selber einzugehen, erscheint hier höchst problematisch die Art und Weise, wie nichtchristliche Texte bearbeitet und nachher sogar als echte christliche Tradition ausgegeben wurden.

7. Gnostizismus und Christentum: erste Konfrontationen

Eine erste Mahnung, sich nicht vom Gnostizismus vereinnahmen zu lassen, finden wir bereits in einem Paulusbrief: Der Brief beginnt mit einer Warnung, weil bestimmte Leute falsche Lehren vertreten, sich mit „Fabeleien und endlosen Geschlechterreihen“ abgeben und damit „sich leerem Geschwätz zugewandt“ haben (1 Tim, 1, 4-6), und endet mit der Empfehlung: „Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz und den falschen Lehren der sogenannten 'Erkenntnis'! Nicht wenige, die sich darauf eingelassen haben, sind vom Weg des Glaubens abgekommen"(1 Tim 6,20).

Diese Ermahnung Paulus’ zeigt uns, wie schon in den apostolischen Zeiten die Evangelisierung durch Kreise ernsthaft bedroht wurde, die eine "jüdisch gefärbte 'Gnosis', einer sogenannten 'Erkenntnis' über Gott und die Welt und die Erlösung" vertraten (11). In den Anfängen des Christentums bestanden also schon komplexe gnostische Systeme, mit den typischen komplizierten kosmologischen „Geschlechterreihen“.

Es kann durchaus möglich sein, dass gerade das jüdische und christliche Milieu auch viele gnostischen Schulen beeinflusst haben  und dass die Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit dem Christentum zur Gestaltung ihrer Theorien auch in wichtigen Punkten beigetragen hat, doch die wichtigen Elemente des Gnostizismus sind vorchristlich (12). 

8. Umwertung der Heilsgeschichte

Die künstliche christliche Verkleidung gnostischer Lehren ist oft offensichtlich, weil die wichtigsten Motive, ein entgegengesetztes Vorzeichen bekommen.

Für die Gnosis besteht der „Sündenfall“ bereits in der Erschaffung der materiellen Welt und in der Menschwerdung. Durch die Erschaffung des Menschen wird ein Funke des Geistes entfremdet, an die Materie gebunden und den Gesetzen des Weltschöpfers und den Einflüssen der Archonten unterworfen. In diesem Prozess „vergisst“ der Geist seinen Ursprung und gibt sich mit der Verstrickung mit der materiellen Welt zufrieden. Die Umwertung der Heilsgeschichte betrifft auch die biblische Erzählung des Paradieses und des Sündenfalles. „In der jüdisch-christlichen Exegese wird bekanntlich jene Schlange als der Satan aufgefasst und ihr Erfolg als Sündenfall, im Christentum gar als die Erbsünde; die Gnosis sieht darin eine Kampfhandlung der jenseitigen Mächte zum Heile des Menschen und von seiten des Menschen die erste Erhebung gegen ihren kosmischen Schöpfer und Unterdrücker“ (13).

Für die Gnostiker war bereits die Existenz im Paradies eine Entfremdung des Geistes. Ein Leben in Harmonie mit der Natur, d.h. mit der materiellen Welt, wäre nur ein dauernder Zustand der Entfremdung, stattdessen muss sich der Mensch seines Zustandes der Unfreiheit, der unnatürlichen Verstrickung des Geistes mit der Materie bewusst werden. Das Paradies erscheint also als ein Zaubergarten, in welchem der Geist gefangen gehalten wird. Für die Gnostiker bekommt die Verführung durch die Schlange die Bedeutung einer Erleuchtung, einer Erweckung: der Mensch wird aufgefordert, gegen den Zustand der Entfremdung und der Unterwerfung seiner göttlichen Natur durch den Schöpfergott zu rebellieren und die eigene göttliche Würde wieder für sich zu beanspruchen.

Die Schlange spielt bei verschiedenen gnostischen Gruppen eine positive Rolle und die Anhänger einer Sekte nannten sich „Ophiten“, von „Ophis“, dem griechischen Wort für Schlange.

Der Schöpfergott erscheint in der gnostischen Deutung als Unterdrücker, seine Gebote als „Zwangssystem“. Die biblischen Gestalten, die sich gegen den Schöpfer auflehnen, werden zu Vorbildern: Kain „wird zum pneumatischen Sinnbild erwählt und sogar in eine direkte Linie mit Christus, dem fremd in die Welt gekommenen und von ihr verfolgten Erlöser, gebracht“ (14). Andere Gnostiker betrachten Sodoma und Gomorra als heilige Wohnsitze (15).

„Es liegt etwas unendlich Menschliches in diesem rauhen Schrei gegen die Gesetzlichkeit des Kosmos, der folgerichtig später auch zum Aufruhr gegen die ethische Gesetzlichkeit wird, weil das kosmische und moralische Gesetz den Menschen tötet. Dieses Revolutionäre, dieser Kampf gegen das moralische und kosmische Gesetz, ist ein roter Faden, der durch die Gnosis geht: im 'Apokryphon Johannis' wird erzählt, dass Christus den ersten Menschen dazu brachte, das Gebot des Schöpfers zu missachten und vom Baume der Erkenntnis zu essen. Gewisse Gnostiker nennen sich nach Kain. Markion erzählt, dass die Bösen, wie Kain und die Sodomiten, die Verkündigung Christi in der Unterwelt annahmen, während die Guten Christus nicht vertrauten und ihn verwarfen“ (16), so der Gnosisforscher Gilles Quispel, der selbst gnostischem Denken nahesteht.

Solche Umwertung und der entsprechende Konfliktstoff mit dem Gnostizismus betriffen nicht nur das Christentum, sondern auch die alttestamentarische Tradition, „Das hervorragendeste Beispiel dafür ist natürlich die Herabwürdigung des alttestamentarischen Gottes zu dem untergeordneten, beschränkten und abstossenden Demiurgen sowie die Verteilung seiner Namen an die noch tiefer stehenden Archonten — in der Geschichte der Religion eine wahrhaftig einzigartige Degradierung, die mit beträchtlicher Gehässigkeit und offenkundigem Genuss vorgenommen wird“ (17). 

9. Das Evangelium Judas’

Im Text können drei Teile unterschieden werden. Im ersten Teil wird eine Krise der Beziehung Jesu zu den zwölf Aposteln beschrieben: Er beschuldigt sie, ein falsches Gottesbild zu haben, sie wären deshalb nicht würdig, im Gegensatz zu Judas, seine geheime Lehre über das Königsreich zu empfangen, und er lacht sie sogar aus, als sie fromm über das Brot beten, was selbstverständlich auch die Verurteilung und die Ablehnung der Eucharistie darstellt. Die Apostel ihrerseits lästern Jesus im geheimen. Dagegen wird eine besondere Achtung Jesu für Judas beschrieben, der als einziger der Einweihung würdig ist.

Der zweite Teil, mit wichtigen Elementen dieser angeblichen Offenbarung, weist einige typische gnostische Merkmale auf. Die Erschaffung der Menschen wird zum Beispiel Sakla zugeschrieben, der eines der vielen Gesichter von Jaldabaoth ist, d.h. des Demiurgen. „Der Name Sakla kommt aus dem Aramäischen und heisst Dummkopf“ (18), dies um zu unterstreichen, dass die Erschaffung des Menschen Folge von Unwissen und Bosheit, und schliesslich ein für den Geist verhängnisvoller Fehler war.

Jaldabaoth „als Welt- und Menschenschöpfer [vereint in sich] Funktionen des alttestamentarischen Gottes. [...] Jaldabaoth repräsentiert den bösen Demiurgen“ (19). Die Beschreibung des himmlischen Königsreiches entspricht einer rein gnostischen Lehre, die keinen tieferen Bezug zum Christentum hat und zu diesem wie ein Fremdkörper erscheint.

Im dritten Teil kehrt man zum christlichen Rahmen zurück. Ähnlich wie bei anderen Texten, wie etwa bei der oben erwähnten Weisheit Jesu Christi, haben wir es grundsätzlich mit einer gnostischen Lehre zu tun, die weder mit dem Christentum noch mit der alttestamentarischen Tradition etwas zu tun hat. Die christlichen Elemente haben keinen Bezug zum eigentlichen Kern des Textes und stellen nur den Angriffspunkt der gnostischen Kritiken. Diese Kritiken dienen nur dazu, die traditionelle Lehre der Kirche als eine geistlose, einfältige, den fleischlichen Menschen angepasste hinzustellen, um den Leser für die gnostische, angeblich echte Interpretation des Christentums empfänglich zu machen.

Der Fund des Judas-Evangeliums ist sicher ein wichtiges Ereignis für die Religionswissenschaft gewesen. Der Text bestätigt unsere Kenntnisse über den Gnostizismus:

 - Die gnostische Lehre hat mit dem Christentum und mit der biblischen Tradition nichts zu tun; ihre welt-, körper- und lebensfeindliche Haltung mit der Auffassung eines bösen Schöpfers und mit der radikalen Entwertung der Welt und des Körpers ist mit dem Christentum unvereinbar.

 - Die welt- und lebensfeindliche Haltung hat zu einer Umwertung der Heilsgeschichte geführt mit der Ablehnung des christlichen Glaubens und der Kirche, und mit der Aufwertung negativer Gestalten wie der Schlange, Kains, der Bewohner von Sodoma und Gomorra.

 - Die Gnostiker haben versucht, verschiedene Religionen zu unterwandern, indem sie ihre Lehren dem Anschein nach gemäß den Prinzipien einer Religion gestaltet haben, wobei aber die gnostische Botschaft deren Grundsätzen widerspricht; nichtdestoweniger haben sich die Gnostiker als deren echte Vertreter ausgegeben: es handelt sich um regelrechte „Akrobatenstücke“ (20).

 - Die gnostischen Lehren haben auch oft zu einer Ablehnung jeder moralischen Ordnung geführt, die nach ihnen eher dem Plan des bösen Demiurgen entsprechen würde.

Das Judas Evangelium passt vollständig in dieses Schema und ergänzt die Reihe der „rehabilitierten“ negativen Gestalten.

Es ist klar, dass der Judas dieses neuen Evangeliums mit dem historischen Judas nicht viel mehr Gemeinsames hat als den Namen.

10. Fazit

Das Judas-Evangelium beginnt mit der Erklärung, dass es sich um den geheimen Bericht der Offenbarung handle, die Jesus drei Tage bevor der Paschafeier dem Judas mitgeteilt hat. Artikel und Presse-Meldungen übernehmen diese These und betrachten so das Judas-Evangelium als ein historisches Dokument und als authentischen Bericht der Gespräche Jesu mit Judas einige Tage vor seinem Tod, und dies trotz der klaren Stellungnahme und der Warnung von Gregor Wust, Professor für Patristik an der Universität Augsburg und Mitherausgeber des Judas-Evangeliums. In einem Artikel auf der Internetseite von National Geographic Deutschland schreibt Wust unmissverständlich: „Es ist klar, dass der Judas dieses neuen Evangeliums mit dem historischen Judas nicht viel mehr als den Namen gemein hat“ (21). Der Autor befürchtet auch einen Missbrauch dieses neuen Fundes: „Selbsternannte Experten wie Dan Brown, der Autor des Bestsellers ‚Sakrileg’, werden sich zwar kaum abhalten lassen, hier eine weitere unterdrückte ‚historische Wahrheit’ zu finden. Nach der angeblichen Affäre mit Maria Magdalena demnächst vielleicht die ‚wahre Geschichte’ über Jesus und Judas? Aber dabei würde es sich nur ein weiteres Mal um schlecht recherchierte Fiktion handeln“ (22).   

Zum Schluss kann man Gilles Quispel zitieren, der u.a. die Ähnlichkeiten zwischen Gnosis und der Analytischen Psychologie des Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung unterstrichen hat:

„Die Kirchenväter und ihr Gefolge haben bis in die allerletzte Zeit geflissentlich versucht, diese Häretiker als gemeine und schmutzige Verführer darzustellen, die nicht ins Christentum und nicht zum Christentum gehörten. Seit der Aufklärung aber werden die Gnostiker immer wieder als verleumdete Unschuldslämmer und missverstandene Christen gezeichnet, die gar nicht so schlimm waren, als sie schienen. Nun war allerdings manches richtig zu stellen, denn gewisse Ketzerbekämpfer haben ihre Gegner bestimmt nicht geschont“ (23). Quispel lehnt jedoch die moderne Rehabilitation der Gnostiker ab: „Eingehende Beschäftigung mit dem Material zeigt nämlich, dass die Gnostiker viel schlimmere Ketzer waren, als es sogar die Kirchenväter vermuteten, dass sie auch, vom Standpunkt der geistigen Gesundheit aus betrachtet, nicht selten ganz gefährliche Kerle gewesen sind, und dass gerade dies das Wesentliche an ihnen ist“ (24).

1. Der englische Text, The Judas Gospel, kann in der Web-Seite www.nationalgeographic.com gelesen und herunterladen werden.

2. Norbert Brox, Erleuchtung und Widergeburt. Aktualität der Gnosis, Kösel, München 1989, S.18.

3. Robert Haardt, Die Gnosis. Wesen und Zeugnisse. Salzburg, Müller 1967, S. 13-14.

4. Gilles Quispel, Gnosis als Weltreligion, Origo, Zürich 1972, S. 62-63.

5. R. Haardt, zit., S. 9.

6. Petr Pokorný, Der Ursprung der Gnosis, in Kurt Rudolph (Hrsg.) Gnosis und Gnostizismus, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1975, S. 749.

7. Kurt Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus, in Kurt Rudolph (Hrsg.) Gnosis und Gnostizismus, zit., S. 772.

8. N. Brox, zit., S. 29.

9. Kurt Rudolph, Die Gnosis, Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. Nachdr. der 3. Auflage, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 60.

10. Judith Hartenstein, Eugnostos (NHC III,3; V,1) und die Weisheit Jesu Christi (NHC III,4; BG 3) in Nag Hammadi Deutsch, 1. Band: NHC I,1-V,1, hrsg von Hans-Martin Schenke, Hans-Gebbhard Bethge und Ursula Ulrike Kaiser, Walter de Gruyter, Berlin - New York, 2001, S. 326.

11. Einleitung zu den Pastoralbriefen in Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Bibel. Gesamtausgabe, Katholische Bibelanstalt, Stuttgart 1980, S. 1324.

12. Vgl. z.B. Ugo Bianchi, Das Problem des Ursprungs des Gnostizismus und die Religionsgeschichte, in Kurt Rudolph (Hrsg.) Gnosis und Gnostizismus, zit., S. 601-625.

13. Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1964, Bd.1, S. 222.

14. Ebd.

15. Vgl. K. Rudolph, Die Gnosis, Wesen und Geschichte..., zit., S. 153.

16. G. Quispel, zit., S. 54-55.

17. Hans Jonas, Typologische und historische Abgrenzung der Gnosis in Kurt Rudolph (Hrsg.) Gnosis und Gnostizismus, zit., S. 602-645.

18. U. U. Kaiser, Die Hypostasen der Archonten (NHC II,4), in Nag Hammadi Deutsch, 1. Band, zit., S. 231.

19. Ebd., S. 223.

20. vgl., Kurt Rudolph, Die Gnosis, Wesen und Geschichte..., zit., S. 60.

21. Gregor Wurst, War er kein Schurke? www.nationalgeographic.de.

22. Ebd.

23. G. Quispel, zit., S. 78.

24. Ebd.