Harry Potter

potter

"Im Lager der Harry Potter-Gegner bahnt sich Fundamentalismus an, sagt Experte für neue Religionen - Interview mit Massimo Introvigne"

(Zenit, Dezember 6, 2001)

potter
TURIN, Italien - Was denkt einer der führenden Experten Europas auf dem Gebiet der neuen religiösen Bewegungen und Sekten über Harry Potter?

ZENIT wandte sich an Massimo Introvigne, um dies herauszufinden. Er ist der Direktor von CESNUR, dem Zentrum für Studien über Neue Religionen, einem internationalen Netz aus Vereinigungen von Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet der neuen religiösen Bewegungen arbeiten. Gerade hat er ein Buch über Osama Bin Laden veröffentlicht.

Z: Viele haben Bedenken gegen die Harry Potter-Bücher und machen geltend, dass es gefährlich sei, Kinder der Zauberei und dem Okkulten auszusetzen. Was denken Sie darüber?

Introvigne: Sowohl als Katholik als auch als Sozialwissenschaftler betrachte ich dies als eine äußerst interessante, aber gefährliche Form von Fundamentalismus, einem Thema, für das ich mich sehr interessiere.

Fundamentalismus im Allgemeinen besteht im Leugnen der Autonomie der Kultur und der weltlichen Sphäre überhaupt, einschließlich der Politik. Er fordert, dass es keine Unterscheidung zwischen Religion und Kultur geben sollte.

Vom katholischen Standpunkt aus haben die Fundamentalisten mit ihrer Diagnose einer modernen Krankheit, nämlich dem Auseinandergehen, der völligen Trennung von Religion und Kultur, durchaus Recht. Aber sie behandeln diese Krankheit falsch.

Das II. Vatikanische Konzil -- und Thomas von Aquin einige Jahrhunderte zuvor - lehrt, dass Religion und Kultur nicht voneinander getrennt werden sollten; sie sollten aber auch nicht miteinander vermengt werden, weil sie nicht ein und dasselbe sind. Wenn das II. Vatikanische Konzil die Autonomie der weltlichen Sphäre erwähnt, ist das Wort, auf das es ankommt "Unterscheidung". Das ist etwas anderes als die säkularistische Trennung und die fundamentalistische Vermengung.

Der Fundamentalismus ist unter Katholiken selten, aber der Anti-Potter -Kreuzzug ist ein Beispiel dafür, wie protestantische fundamentalistische Ideen sich auch in bestimmten katholischen Milieus verbreiten können.

Es besteht wenig Zweifel daran, dass die Harry Potter-Bücher und der Film die besten Beispiele einer gesellschaftlichen Produktion populärer Kultur sind, die -- im Gegensatz zum 17. Jahrhundert zum Beispiel-nicht von der Kirche oder der christlichen Gemeinschaft kontrolliert oder bestimmt wird.

Säkularisten würden nicht nur sagen, dies sei immer gut und positiv, sondern auch, wir sollten bei der Beurteilung zeitgenössischer kultureller Produkte christliche moralische Wertmaßstäbe ganz beiseite lassen.

Fundamentalisten lehnen alle Erzeugnisse der zeitgenössischen populären Kultur ab oder werfen sie sogar auf den Scheiterhaufen, weil ihre Produktionsweisen, ihre Sprachformen und Stile nicht wirklich christlich sind. Wenn wir der katholischen Lehre über die Autonomie der Kultur folgen, uns jedoch das Recht vorbehalten, ihre Erzeugnisse nach unseren eigenen Wertmaßstäben zu beurteilen, können wir die zeitgenössische populäre Kultur nicht als Ganzes von uns weisen und sollten von Fall zu Fall entscheiden.

Es ist eine offensichtliche Tatsache, dass die moderne populäre Kultur sich oft der Sprache der Zauberei bedient. Dies reicht zurück bis zu Klassikern wie "Der Herr der Ringe", "Der Zauberer von Oz", "Mary Poppins" und "Peter Pan", ganz zu schweigen von viel älteren Märchen wie Aschenputtel, Schneewittchen und Dornröschen.

Die Verfasser von dem, was wir "übernatürliche Fiktion" nennen, glauben nicht notwendigerweise an Magie. Die meisten von ihnen tun dies nicht. Bram Stoker zum Beispiel, der Autor von "Dracula" einem der neuesten Romane der übernatürlichen Fiktion, schrieb auch ein Buch mit dem Titel "Famous Imposters" (Berühmte Betrüger) gegen jede Art von Aberglauben und Glauben an Magie. Stoker war irischer Protestant, mit einer frommen katholischen Frau verheiratet.

Die meisten Kinder verstehen, dass Zauberei in Märchen und jugendlicher &Mac173;übernatürlicher Fiktion´ als eine jahrhundertealte Sprache benutzt wird, und dass dies erfunden und nicht wirklich ist. Wenn wir die Verwendung von Zauberei als Sprache ablehnen, dann sollten wir auch fundamentalistisch bis zum bitteren Ende sein und "Mary Poppins, "Peter Pan" und "Dornröschen" ablehnen und darauf bestehen, dass Aschenputtel eine Burkha anzieht.

Übrigens ist dies genau das, was nicht nur die Taliban sondern auch die in Saudi-Arabien herrschenden puritanischen Wahhabiten tun: Alle die Titel und Märchen, die ich genannt habe, wurden im Afghanistan der Taliban verboten, und die meisten davon sind es in Saudi-Arabien.

Wenn wir die Magie als Sprache akzeptieren, so bedeutet das natürlich nicht, dass wir dann nicht auch prüfen sollten, was für Geschichten in dieser Sprache erzählt werden. "Harry Potter" besteht, meiner Meinung nach, diesen Test genau so wie "Dornröschen" oder "Aschenputtel" mit Bravour, weil die menschlichen Werte, die sie lehren, gute natürliche Werte sind.

Z: Kritiker Harry Potters sehen einen großen Unterschied zwischen Verfassern wie Tolkien und C.S. Lewis, die, wie sie geltend machen, sich magischer Elemente auf christliche Weise bedienen, und den Büchern von J.K. Rowling, in denen Magie auf gnostische und heidnische Art dargeboten wird.

Introvigne: Ich habe den Eindruck, dass hier Autor und Text stark miteinander vermengt werden. Man muss nicht die moderne säkulare Interpretationslehre lesen -- sagen wir, Umberto Eco -- um zu erkennen, dass sie zwei sehr verschiedene Dinge sind. Es genügt, klassische Philosophie zu lesen, um zwischen "intentio-auctoris" (der Absicht des Autors) und der "intentio-operae" (der Absicht des Werks) zu unterscheiden.

Wir alle wissen, dass Tolkien ein guter Christ der Kirche von England war. Aber ich bestreite, dass jemand, der nichts von Tolkiens Biografie weiss, ausdrückliche Hinweise auf das Christentum in "Herr der Ringe finden würde. Es handelt sich hier um ein typisches alternatives Universum, in dem die Spielregeln einfach nicht die selben sind wie in der menschlichen Geschichte.

Es hat sogar einige Dummköpfe gegeben, die versucht haben, aus Tolkiens Büchern eine Religion zu schaffen. Das ist natürlich albern: Tolkiens Welt ist erdichtet (fiktiv), und man sollte sie als solche stehen lassen.

Andrerseits war Pamela Travers, die "Mary Poppins" schrieb, eine treu ergebene Schülerin des okkulten Meisters George Ivanovitch Gurdjieff. Aber das heißt nicht, dass "Mary Poppins" okkulte Propaganda ist. Ganz einfach, die privaten Ansichten der Autoren haben zwar einen gewissen Einfluss auf ihr Werk, schlagen sich aber nicht oft in ausdrücklichen Erwähnungen nieder.

Wenn schon, dann ist Tolkiens Welt viel düsterer und problematischer als "Harry Potter". Aber, noch einmal, sie ist erdichtet, und was wirklich zählt, ist die Lehre, die wir aus den Charakteren und ihren moralischen Kämpfen ziehen können.

Z: Andere sehen in den Potter-Geschichten eine klassische Kindergeschichte von Gut und Böse, wenn auch mit magischen Elementen. Welche positiven Elemente für den Leser finden sich in den Büchern?

Introvigne: Genau so wie in Tolkiens "Herr der Ringe" -- den ich allerdings für etwas ältere Kinder empfehlen würde, als es die jungen Leser "Harry Potters durchschnittlich sind -- werden dort wertvolle Grundsätze für die postmoderne Welt, in der wir leben, dargestellt.

Erstens, es herrscht eine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Zweitens ist diese Unterscheidung nicht schwarzweiß -- dem Warenzeichen sowohl billiger populärer Kultur als auch des Fundamentalismus. Vielmehr sind die guten Charaktere ständig in Gefahr, dem Bösen in ihnen selbst zu unterliegen.

Dies macht diese Charaktere sowohl glaubwürdig als auch erzieherisch. Übrigens glaube ich, dass es der richtige Weg ist, in einem fiktionalen Universum, keine speziellen Hinweise auf das Christentum zu geben, auch wenn es sich um einen offensichtlich christlichen Verfasser wie Tolkien handelt. Junge Leser sollten nicht erfundene Welten und Christentum durcheinander bringen, denn das letztere ist gar wohl Teil der Wirklichkeit.

Z: In den letzten Jahren hat es eine Welle des Interesses an Themen gegeben, die sich mit dem Okkulten befassen. Ist das Interesse an diesem Gebiet ein Zeichen des Mangels an christlichem Einfluss in der modernen Kultur?

Introvigne: Das stimmt zum Teil, aber viele wiederholen einfach, dass "das Okkulte sich weiter ausbreitet," gegründet auf Zeitungsausschnitte, ohne die vorhandene umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur über dieses Thema wirklich zu kennen.

Es stimmt zwar, dass einige okkulte Gruppen wachsen. Aber sie sind nach wie vor klein. Sie sind noch sehr klein, wenn man sie mit christlichen Denominationen vergleicht. In der Europäischen Union (EU) machen die Mitglieder okkulter oder esoterischer Bewegungen weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung aus. Das trifft auch für die USA zu.

Die Tatsache, dass die Medienaufmerksamkeit für diese Gruppen groß ist, bedeutet nicht, dass sie in Wirklichkeit groß sind. Manche Anschauungen breiten sich zurzeit aus, besonders die Vorstellung von der Reinkarnation, aber das ist kein rein "okkulter " Glaube -- er findet sich in einigen zeitgenössischen Romanen, aber selten.

Wenn man andererseits aus der Popularität von Fernsehserien wie "Charmed", "The X-Files" oder "Buffy the Vampire Slayer" schließt, dass das Okkulte sich ausbreitet, so ist das wiederum eine Vermengung von Fiktion und Realität.

Diese Shows haben ein großes Publikum in Europa, aber die okkulten Bewegungen gehen hier gerade zurück. Es gibt also einiges empirisches Beweismaterial dafür, dass ein Jahrzehnt massiver fiktionaler Magie im Fernsehen sich nicht in erhöhter Mitgliedschaft in okkulten Bewegungen niedergeschlagen hat, -- es sei denn, jemand nimmt die Propagandaäusserungen der Führer dieser Bewegungen ernst, von denen einige versuchen "Harry Potter" oder die TV-Serien für ihre eigenen Ziele auszubeuten. Diesem ist anzuraten, sich eher auf die Sozialwissenschaftliche Literatur zu verlassen als auf solche &Mac173;Beweise´.

Z: Eine Auswirkung der Potter-Bücher ist, dass das Interesse am Lesen unter den Kindern geweckt wurde. Andererseits machen sich manche Sorgen darüber, dass imaginäre Welten geschaffen werden und dass dies für die Kinder Schwierigkeiten mit sich bringen könnte, Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden. Was sollten Eltern tun, um ihren Kindern den rechten Weg zu zeigen?

Introvigne: Ich glaube, "Harry Potter" hat seinen wirklichen Zauber ausgeübt, indem er die Kinder vom Fernsehen weg wieder für Bücher gewonnen hat. Nur Harry Potter veranlasste meine acht Jahre alte Tochter zu sagen, sie möchte lieber lesen als fernsehen -- wir waren sehr überrascht. Dies ist sicherlich etwas Gutes.

Andererseits ließen wir die Situation nicht unbeaufsichtigt und sprachen immer wieder mit unserer Tochter über "Harry Potter" und vergewisserten uns, dass sie verstand, dass die Zauberei in dem Buch erfunden ist, während gute charakterliche Werte wirklich sind und auch in der wirklichen Welt vorherrschen sollten.

Es wäre sehr gut, wenn die Eltern dies bei den meisten Erzeugnissen der zeitgenössischen populären Kultur tun würden-wir wissen, das ist schwer - wobei sie die Wahl der Lektüre dem Alter ihrer Kinder anpassen sollten, anstatt sie in einem fundamentalistischen Getto einzuschließen.

Mir wäre eine katholische Version des Talibanregimes nicht recht, und ich sage ganz offen, ich möchte lieber, dass mein Aschenputtel zum Fest ohne Burkha geht.

HARRY POTTER MAIN PAGE


CESNUR HOME PAGE